Der Unhold

Deutschland Frankreich Großbritannien Polen 1995/1996 Spielfilm

Der Unhold



Georg Seeßlen, epd Film, Nr. 9, September 1996

Unter den Strategien, mit den Bilderfallen und ästhetisch-moralischen Widersprüchen der Produktion von Bildern über den deutschen Faschismus umzugehen, gibt es kaum eine furchtbarere als die "neue Unbefangenheit", mit der man glaubt, sich dem Nationalsozialismus in einer selbst gewählten Mischung aus frivoler Faszination und historischer Distanz nähern zu können. Der erste große deutsche Faschismusfilm der "neuen Unbefangenheit" ist wohl Volker Schlöndorffs "Der Unhold" geworden. Er entstand nach dem Roman "Der Erlkönig" von Michel Tournier, dem Jean Amery gewiß nicht ganz zu Unrecht eine "ästhetisierende Darstellung des Faschismus" vorgeworfen hat. Nun muß ein solches Urteil keineswegs die Verfilmung des Romans ausschließen, aber Regisseur Schlöndorff hätte ein wenig gewarnt, ein wenig zur kritischen Reflexion seines Materials angehalten sein können. Statt dessen wischt er Amerys Aussage schnell vom Tisch: "Das war eine andere Zeit. Ich bezweifle, ob man das heute wieder so sagen würde", läßt er verlauten, und erklärt frei: "Ich hab eigentlich ein Vergnügen daran, diese aufgedonnerten Nazis und die Begeisterung der Hitlerjugend darzustellen, ohne mich dauernd davon zu distanzieren. Früher hätte man da mit Schutzbehauptungen rangehen müssen." Waren demnach alle Versuche vordem, Filmbilder vom deutschen Faschismus zu entwickeln, die sich ihrer historischen, persönlichen und kulturellen Befangenheit bewußt waren, Produkte cineastischer "Schutzbehauptungen"?

Vielleicht wähnte sich der deutsche Regisseur hinter einem französischen Roman bei einem Filmprojekt für den europäischen Markt zu schnell zu sicher. Gerade weil die Geschichte, die der Film vom Roman übernimmt, zugleich einfach und durch ihre Perspektivwechsel doch heimtückisch mehrschichtig wirkt, hätten sich gewiß Möglichkeiten der Kommentierung, der kritischen Brechung, der Selbstbefragung ergeben. Aber von Anfang an will Schlöndorff offenbar auf ein geschlossenes Bild hinaus, so als könne er auch hier seiner Technik der freundlich symbiotischen Literatur-Bebilderung folgen, die ihm bei der "Blechtrommel" immerhin achtbar gelang. Das Film-Bild bei Schlöndorff ist die dezente Realisierung dessen, was an Bildhaftigkeit in einem literarischen Text angelegt ist, soweit es dem Plot dient. Das Beste, was man von seinen Filmen sagen kann, ist, daß sie (bei offensichtlichem handwerklichen Geschick) mit ihren Vorlagen stets respektvoll umgehen. Das ist aber auch zugleich das Schlimmste, was man von ihnen sagen kann. Sie fügen dem Text nichts hinzu, sie befragen ihn nicht, sie lassen ihn nicht neu erscheinen; es ist Kino für die Bequemsten unter den neuen und alten "Bildungsbürgern".


Michel Tournier erzählt aus einem ebenso reichen wie verrückten Innenleben seines Helden heraus, der sehr viel mehr phantasiert als beobachtet. Der Film übersetzt dies recht linear, indem er (vielleicht vom Schlußbild abgesehen) alle Elemente in "objektive" filmische Realität übersetzt. Der Unhold, Abel Tiffauges, gespielt von John Malkovich, ist geprägt von seinen Erlebnissen im Internat von St. Christopherus; da wurde er immer ungerecht bestraft, war für die Machtspiele immer zu langsam, wuchs zum klassischen Sündenbock heran. Als er sich wünscht, die Schule würde abbrennen, und dies auch tatsächlich geschieht, glaubt er an eine magische Bestimmung in seinem Leben, an eine übersinnliche Kraft, die ihm zur Verfügung steht. Aber zugleich sehnt er sich immer nach der Kindheit zurück, sucht immer die Gegenwart von Kindern. Nun betreibt er eine kleine Autowerkstatt; gelegentlich lädt er das kleine Mädchen Martine mit auf eine Spazierfahrt, bis sie ihn eines Tages bezichtigt, sie vergewaltigt zu haben. Diesmal ist es ein anderer Brand, der ihn rettet, der Ausbruch des Krieges. Abel wird Soldat, gerät in Gefangenschaft und wird nach Ostpreußen gebracht. Er ist hier glücklicher als daheim, fühlt sich hier eher angenommen als in Paris. In den Wäldern um das Gefangenenlager, das er nach Gutdünken verläßt und wieder aufsucht, findet er eine kleine Hütte, und ein alter blinder Elch wird sein Freund. Dort trifft auch der Jagdhelfer von Göring auf ihn, und Abel steigt zunächst einmal zum Pferdeburschen auf. Er ist fasziniert von der prunkvollen Aufwartung Görings in seinem Jagdschloß, der seine Hände in Diamanten kühlt und in einer aberwitzigen Phantasieuniform auftritt. Die Nachricht vom Geschehen in Stalingrad löst die absurde Jagdgesellschaft auf; der Oberforstmeister (Gottfried John) wird an die Ostfront strafversetzt, und Abel erhält zum Abschied sein Pferd und eine Anstellung auf Schloß Kaltenborn, einer "nationalpolitischen Erziehungsanstalt", zunächst eine Elite-Schule für arische Jungen, dann immer mehr eine Ausbildungsstätte für Kindersoldaten für den "Endkampf".

Abel blüht in der Welt der Jungen, die sich so glühend an Lagerfeuern, Fanfarenzügen und Uniformappellen begeistern, noch mehr auf; er macht sich überall nützlich, ist allgegenwärtig: er hat sein Paradies gefunden als Wächter über den Schlafsaal der Jungen. Und dann wird er zum Erlkönig; auf seinem Pferd "Blaubart", begleitet von gewaltigen Hunden, reitet er durch die umliegenden Ortschaften, um neue Jungen für Kaltenborn zu holen, mit Überredung hier, mit Gewalt dort. Der Leiter der Schule (Armin Mueller-Stahl) entpuppt sich als Mitglied des Widerstandes und wird verhaftet; die Institution ist dem Wahnsinn des Arztes, der die Schädel der Kinder vermißt, um die "Rassereinheit" zu erkunden, und dem des Offiziers, der die Kinder gezielt auf den Selbstmord-Einsatz vorbereitet, ausgeliefert, nur Abel und die Haushälterin Netta (Marianne Sägebrecht) liefern noch menschliche Zuneigung. Der Krieg kommt immer näher, und schließlich begreift Abel, wofür er die Kinder geholt hat. Er versucht, sie in die Wälder zu führen, aber die Jungen erweisen sich als unrettbar, schlagen ihn nieder und gehen ins Feuer. Abel nimmt den kleinen jüdischen Jungen, den er in seiner Dachkammer verborgen hatte, auf seine Schultern und trägt ihn, ganz wie der heilige Christopherus, durch den eisigen Fluß.


Beinahe noch mehr als in Tourniers Roman ist dieser Abel ein Verwandter von Oskar Matzerath - wissende Verrückte, die sich dem Erwachsenwerden widersetzen. Oskar ist der Mann im Körper eines Kindes, und Abel das Kind im Körper eines Mannes. Weil der erste Teil des Romanes in Form der Tagebuchaufzeichnungen des Protagonisten gehalten ist, erfahren wir bei Tournier, daß die "Verrücktheit" Abels eher einer Konstruktion inneren Reichtums entspricht, während wir ihn bei Schlöndorff mehr als reduzierte Person erkennen. Malkovich erscheint als neugierig suchender, seltsam unschuldiger, verletzter und ein bißchen blöder Mann. So wird eine Formel deutlich: "Der junge Törless" versucht Louis Malles "Lacombe Lucien" zu erklären, der versucht, "Die Blechtrommel" zu erklären. Der Weg ist vielversprechend, aber das Ziel ist eine Revision, die so merkwürdig ist wie der Umstand, daß ein deutscher Film versucht, den Faschismus durch die Augen eines französischen Kollaborateurs zu sehen.

Michel Tourniers Abel ist ein wenn auch "komisch" philosophierendes Subjekt, während er im Film nur als mehr oder weniger reiner Tor erscheint. Seine Faszination durch den Faschismus hat nicht nur damit zu tun, daß er ihm so sehr vom magischen Schicksal durchdrungen scheint wie er selbst, sondern auch mit der Begeisterung für Descartes" Ordnungssysteme. Im Film sehen wir ihn genau so, wie er sich am Ende seiner Aufzeichnungen, wo ein "objektiver" Erzähler das Regiment übernimmt, beschreibt: "Ich habe niemals um eine Apokalypse gebetet! Ich bin ein sanfter Riese, der niemand ein Leides tut, der nach Zärtlichkeit lechzt, der seine großen Hände ausstreckt und sie zusammenlegt gleich einer Wiege." Die Figur nach diesen seinen Worten zu inszenieren heißt, gleichsam auf ihn hereinzufallen, heißt ihm zu glauben und die farcenhafte Dämonie, die von dieser Gestalt ausgeht, zum Mißverständnis zu erklären. Er ist auch nicht der Außenseiter, der sich durch die faschistische Reorganisation der Welt einen Platz in ihr erhofft, auch kein Opportunist, der dem Bösen folgt, bis ihn am Ende die Gnade ereilt, er ist im Buch immer wieder identisch mit jenem "analen Engel" (dem Pferd), von dem Tournier spricht, und der die Worte und die Wahrnehmungen der Welt unter die Mythisierung seines päderastischen Begehrens stellt. Abels Bindung an die Kindheit verhält sich ebenfalls spiegelverkehrt zu der von Oskar Matzerath: Seine Maskerade dient dem Eindringen in die Welt seiner sexuellen Idole, den (männlichen) Kindern. Der Erlkönig ist unter anderem ein Päderast, der Gott, die Welt und vielleicht sich selbst um die wahre Natur seiner Begierde betragen will. Im übrigen läßt Tournier in den erotischen Schwärmereien seines Helden nicht den geringsten Zweifel an der Sexualität seiner Inszenierungen. Im Zentrum seiner erotischen Mythologie steht die Ablehnung der Frau, die ihn in der Gestalt der Frau Kachel überfordert und in der Gestalt des Mädchens Martine verrät.


Schlöndorff inszeniert die Begegnung von Abel und dem deutschen Faschismus so sehr als Mißverständnis, wie er an seine ursprüngliche Unschuld glaubt. Wie weitgehend die sexuelle so bleibt auch die religiöse Dimension von Michel Tourniers Roman im Film ohne Äquivalenz. Deshalb erscheinen Abels mystische Erlebnisse und insbesondere seine letzte Verwandlung eher als Kitsch-Zitate, von denen man nicht recht weiß, was es eigentlich ist, was sie entlarven oder wohin sie führen sollen. Im Buch ist dieser Abel Tiffauges einer, der in biblischen Bildern rast und revoltiert. So bleibt als letztes die politische Metaphorik von der Verführbarkeit durch die faschistische Inszenierung, die freilich losgelöst von den mythischsexuellen Projektionen jenes philosophierenden Kind-Mannes als ein wenig platt erscheinen muß.

Aber in Wahrheit sagt Schlöndorffs Film über den Faschismus nicht mehr aus als über Tourniers Roman; er rekonstruiert Bilder, wie wir sie kennen, vom grotesken Größenwahn und den Operetten-Inszenierungen der Macht, von der schwerblütigen Melancholie der Nischenbewohner; von der aristokratischen Würde des Widerstandes, von der Psychose des Rassismus, von den Fackelumzügen und Trommelwirbeln, den leuchtenden Augen zuerst und dann den klaffenden Wunden der Kindsoldaten. Die codierten Bilder lösen sich unter dem doppelt "fremden" Blick des Abel Tiffauges nicht auf, im Gegenteil, sie scheinen ihre Standfestigkeit zu beweisen. Und so entstehen aus der Passion eines Mannes, der immer Kind bleibt, aber am Ende doch wenigstens das verloren hat, was die Kindlichkeit beschützt, das Vertrauen in die Bestimmung des Lebens, lauter fatale Unschuldsbilder; wie für den Helden ist auch für den Film der Faschismus einfach schicksalhaft da, verführerisch eben. Dagegen verschwimmt der Diskurs von Schuld und Unschuld, und anders als durch den Blick von Oskar Matzerath ist durch Abels Blick nichts enttarnt. Blick und Bild entsprechen einander vollkommen; der Faschismus ist das, was dieser Blick ersehnt und was ihm vorgemacht wird. Daher wendet sich auch die letzte Inszenierung Abels, seine mythische Rettung des jüdischen Knaben Ephraim, von der Erkenntnis ab, die der ungeheure Schock ausgelöst haben könnte, als aus der Inszenierung Ernst wird, der Faschist schon als Kind nicht mehr zu retten und nicht mehr von seiner Bestimmung abzubringen ist, tötend in den Tod zu gehen.


Man merkt überdies, daß Schlöndorff mit den internationalen Schauspielern nicht hart gearbeitet hat: Jeder von ihnen scheint in seinem eigenen Film zu sein, liefert das eine oder andere Kabinettstück an Darstellung ab und versucht, seinen Mythos zu bewahren. So gibt es, schon im Spiel des einzelnen, und erst recht dann im Ensemble, keinen Ansatz zu einem analytischen Spiel. Weder der Regisseur noch die Schauspieler geben mir auf meine Frage, warum diese Figur an diesem Ort ist und sich auf diese Weise verhält, eine andere Antwort als diese: Weil es so im Text steht. Aber Partitur spielen ist bei diesem Stoff, der nach Besessenheit und nicht nach Kunsthandwerk verlangt, zu harmlos. So wie sich in Volker Spenglers Göring-Darstellung poetische Farce und heftige Klamotte berühren (vielleicht hätte ja genau daraus etwas werden können), so kippt andrerseits der Film immer wieder in eine "realistische" Erzählweise, in der John Malkovich sehr gut, wenn nicht vorzüglich funktioniert, aber niemals gefordert ist, die Partitur, den Text, das Papier zu überschreiten. Malkovich spielt gut und ist schlecht in diesem Film, der fast nichts von den Schmerzen und den Widersprüchen enthält, die sein Stoff erzeugen muß.

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