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Eine Berliner Biografie zwischen Ost und West, das Leben einer Widerständigen, die mit der Poesie ihrer Liedtexte das Politische und das Private vereint: Bettina Wegner wird oft auf ein einziges ihrer vielen Lieder, die "kleinen Hände", und ihre Zusammenarbeit mit Joan Baez reduziert. In Lutz Pehnerts Porträt bekommt sie gebührenden Raum. Mit 21 stand sie vor Gericht, weil sie gegen das gewaltsame Ende des Prager Frühlings protestiert hatte. Sie wurde Teil einer regen Musik- und Literaturszene um Thomas Brasch und ihren Mann Klaus Schlesinger und blieb mit ihrer Kunst unbequem.
Humorvoll und mit rauer Stimme erzählt sie von ihrer Zerrissenheit und von dem Bedürfnis, die Heimat in der DDR nicht aufzugeben, auch als man sie dort nicht mehr haben wollte. Ihr Lied "Über Gebote" aus dem Jahr 1980 dient Pehnert als Leitfaden durch Wegners Leben. Er nutzt Archivmaterial aus Ost und West, Audiomitschnitte aus ihrem Prozess, Wegners eigene Worte und ihre Musik. Damit gibt der Film einem neuen Publikum die Chance, die Liedermacherin Bettina Wegner zu entdecken, die eigentlich immer nur Liebeslieder singen wollte.
Quelle: 72. Internationale Filmfestspiele Berlin (Katalog)
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„Stalin war wie Gott": Bis dahin, aufgewachsen als Tochter eines Journalisten in einem SED-treuen familiären Umfeld in Pankow, ist die Bibliotheksfacharbeiterin, Schauspielerin und Mitbegründerin des FDJ-Oktoberklubs nur in intellektuellen Kreisen der Hauptstadt der DDR ein Begriff – vor allem für melancholische Liebeslieder. Politisiert wird sie zum einen durch die Beteiligung der Nationalen Volksarmee an der gewaltsamen Niederschlagung des „Prager Frühlings“ um den Reformer Alexander Dubček. Weil sie „Zettelchen“ gegen den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen am 21. August 1968 geschrieben hat, wird sie wegen „staatsfeindlicher Hetze“ verurteilt: Bewährung in der Produktion in den Elektro-Apparate-Werken (EAW).
Endgültig, inzwischen hat Bettina Wegener den Schriftsteller und Musiker Klaus Schlesinger geheiratet, auf der Abendschule Abitur gemacht und ihre Ausbildung als Sängerin am Zentralen Studio für Unterhaltungskunst mit einem Diplom abgeschlossen, schließt sie durch die Ausbürgerung Wolf Biermanns mit dem SED-Regime ab. Nachdem sie im November 1976 eine Petition prominenter Künstler und Intellektueller dagegen unterzeichnet hat, darf sie in der DDR nicht mehr auftreten. 1983 vom DDR-Kulturministerium aufgefordert, das Land zu verlassen unter Androhung eines Ermittlungsverfahrens wegen „Verdachts auf Zoll- und Devisenvergehen“ bezieht sie ein Haus im äußersten Nordwesten West-Berlins, in Frohnau unweit des antifaschistischen Schutzwalls.
Was kein Zufall ist: Bettina Wegner will im Westen keine Wurzeln schlagen trotz großer Erfolge wie dem gemeinsamen Konzert mit Joan Baez in der Waldbühne. Es wirkt wie ein Befreiungsschlag, als sie im Dezember 1989 gemeinsam mit anderen ausgebürgerten Liedermachern zum ersten Mal wieder in der DDR auftreten kann, im Berliner „Haus der jungen Talente“. Fortan engagiert sie sich politisch, gehört 1992 zu den Mitunterzeichnern des Appells zur Gründung des Komitees für Gerechtigkeit. Und sozial, sie gibt seit 2003 immer wieder Benefizkonzerte für das Kinderhospiz „Sonnenhof“. Im Dezember 2007 nimmt sie offiziell Abschied von der Bühne.
„Zehn Gebote für mein Leben als die letzte Waffe“: Lutz Pehnert, als Sohn des stellv. DDR-Kulturministers selbst in einem staatstreuen Umfeld aufgewachsen und später Redakteur des auflagenstarken FDJ-Zentralorgans „Junge Welt“, entlockt der 73-jährigen Bettina Wegner bei einem zweitägigen, bewusst in Schwarzweiß gedrehten Interview in Frohnau überraschende Bekenntnisse wie das, eine gläubige Christin zu sein.
„Wenn ich ein Vöglein wär“: Gerahmt von jugendbewegten Szenen aus dem Mauerpark und Archivmaterial wie Prozessakten und von ihr selbst getippten Stasi-Protokollen gibt eine stark berlinernde Bettina Wegner mit einer großen Portion Selbstironie und verblüffend selbstverständlicher Offenheit intime Details aus ihrem an Brüchen reichen Leben preis. Von ihrer großen Liebe zu Thomas Brasch, der als Familienvater hoffnungslos überfordert gewesen ist, von anderen „illustren“ Männergeschichten etwa mit Oscar Lafontaine, weil der Stalins Lieblingslied auf Georgisch singen konnte.
„Aufrecht stehn, wenn andre sitzen / Lauter schrein, wenn andre schweigen“: Die Zwischentitel dieser Hommage, die glatt als auf vielfache Weise anrührendes „Bettina-Musical“ durchginge, entstammen Wegners Lied „Gebot“. Lutz Pehnert am 2. Oktober 2022 im Berliner „Tagesspiegel“: „Die erste, schönste und auch herausforderndste Arbeit an diesem Film war, mir die Lieder von Bettina Wegner anzuhören. Nächtelang. Immer wieder. Ich habe mich in diese Lieder verliebt, dabei gestrahlt, gekämpft und geheult. Ich bin auch in ihnen zusammengebrochen, weil sie etwas geschafft haben: mein Leben an ihnen zu messen. Oder mich ganz einfach zu fragen: Was ist mit dir, was hast Du gewollt, was hast Du verloren? Das war mein Start in den Film.“ Free-TV-Premiere ist am 9. November 2022 im „Dritten“ des Rundfunks Berlin-Brandenburg.
Pitt Herrmann