Wir
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Michael Ranze, epd Film, Nr. 3, 02.03.2004
Wie das Leben leben, wie die Zukunft gestalten? Entscheidungen sind zu treffen über Beruf oder Studium, Beziehungen oder Single-Dasein. Noch sind die Weichen nicht gestellt, noch können die zehn twentysomethings, die Martin Gypkens in seinem Spielfilmdebüt zu einer höchst heterogenen Clique vereint, wählen, welchen Weg sie einschlagen wollen. Ein Zurück gibt es vielleicht nicht mehr, und so führt die Furcht vor den Konsequenzen eines einmal gewählten Lebensentwurfs zu einer Entscheidungsschwäche, die die Figuren zu lähmen scheint. Eine Lähmung, die im Laufe des Films mehrmals zu Konflikten führt. Da gibt es eine Studentin, die jedes Semester ihre Studienfächer wechselt - ohne einen Abschluss zu machen. Eine andere wirft ihren jeweiligen One-Night-Stand noch vor dem Schlafengehen aus der Wohnung – bis einem der Kerle der Kragen platzt. Ein anderer Student beginnt eine Beziehung zu einem Mann, obwohl er eine Freundin hat. Ein dritter stellt viel zu spät fest, dass er etwas anderes machen möchte als ausgerechnet Drehbücher schreiben.
Alle Helden eint ein melancholisches Bedauern darüber, dass die Jugend nun vorbei ist. Erwachsenwerden bedeutet für alle auch eine Abkehr von Idealen und Träumen, von Aufbegehren und Treibenlassen, manchmal auch von Menschen. Florian (Oliver Boker) jedenfalls ist ein wenig irritiert, als er nach Berlin geht, um zu studieren. Zwar ist in der WG seines Jugendfreundes Pit (Jannek Petri) noch ein Zimmer frei. Doch der mag an alte Zeiten nicht anknüpfen und geht seiner Wege. Auf einer Party lernt Florian die anderen kennen: Till (Sebastian Reiß) zum Beispiel, der einen Film produzieren will. Oder dessen schöne Freundin Petronella (Rike Schmid), die Florian den Kopf verdreht, schließlich sogar mit ihm ins Bett geht. Doch entscheiden mag auch sie sich nicht.
Gypkens hat einen fast schon Altmanschen Reigen entworfen, an dessen Ende sich einige Paare neu formieren. Episodenhaft wandert er vom einem zum anderen, verwebt die einzelnen Handlungsstränge zu einem dichten Filmgeflecht. Dabei hat er die einzelnen Short Cuts behutsam austariert und – vielleicht mit Ausnahme von Florian – alle Charaktere gleich gewichtet. Sie verkommen nie zu Stereotypen, die nur für eine bestimmte Haltung stehen. Im Gegenteil: Es sind lebendige, vielschichtige Figuren. So entstand ein eindringliches Kaleidoskop jugendlicher Befindlichkeit an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Dabei hat Gypkens seinen Mittzwanzigern genau aufs Maul geschaut. Ihre Sorgen und Nöte, Gefühle und Hoffnungen, Sehnsüchte und Träume schildert er ebenso glaubhaft wie realistisch. Die Authentizität wird noch durch die bewegliche Handkamera unterstrichen, die ganz nah an die Personen rückt. Das Bedauern über verpasste Chancen oder die Angst vor der Zukunft hat der Regisseur in markant geschriebenen Dialogen eingefangen. Das unterscheidet "Wir" angenehm von Coming-of-Age-Filmen deutscher ("Mädchen, Mädchen") oder amerikanischer Provenienz ("Tomcats"), die sich gern in die Niederungen schlüpfrigen Humors begeben und außer den Sorgen um das erste Mal nicht viel zu bieten haben.