The Mirror
Der Spiegel
V. B. Burg, film-dienst, Nr.22, 30.10.1984
Kirals „Eine Saison in Hakkari“ (fd. 24 377) beeindruckte durch die dokumentarisch genaue Abbildung einer Landschaft und eines Milieus. So natürlich wirkt diese Abbildung, daß kaum auffällt, wie subjektiv und hintergründig sie ist; erst allmählich wird man gewahr, daß die meisten Beobachtungen durch das Bewußtsein des verbannten Lehrers gefiltert sind und daß die Saison des Titels, der Winter, vermutlich das gesellschaftliche und politische Klima der Türkei bezeichnet. Und so überrascht es höchstens im ersten Moment, wenn sich Kiral in „Der Spiegel“ einem Stoff zuwendet, bei dem das äußere Geschehen nur insoweit von Bedeutung ist, wie es das Bewußtsein der Handelnden formt.
Der Sohn des Großgrundbesitzers, der kleine Aga, stellt der Bäuerin Zelihan nach und macht ihr Geschenke. Als sie ihrem Mann Necmettin davon berichtet, rät der ihr, das Geld des Aga ruhig anzunehmen. Inzwischen schmiedet er einen Plan, seine Ehre zu reinigen. Er bittet den Aga um einen Tag Urlaub für Besorgungen in der Stadt, lauert aber in seinem Haus. Als der kleine Aga kommt, um Zelihan heimlich zu besuchen, ersticht er ihn und verscharrt die Leiche. Erahnt nicht, daß er damit seine Ehe zerstört. Denn Zelihan zieht sich immer mehr von ihm zurück. Und wieder reagiert Necmettin mit Gewalt.
Kiral wählt ähnliche Stilmittel wie in „Eine Saison in Hakkari“: lange Einstellungen mit wenig Bewegung, die meist nur von Geräuschen untermalt werden; karge Dialoge, eine Handvoll Schauplätze, sparsame Farbeffekte (rot!); dazu kommt für uns noch der fremdartige Klang des Türkischen, da der Film mit Untertiteln läuft. Die Phantasien Zelihans und Necmettins sind übergangslos in die Handlung eingeschnitten und mit demselben Realismus inszeniert wie die tatsächlichen Ereignisse. Nur die paar Augenblicke, in denen die Hauptpersonen ihre Gedanken vor sich hinsprechen, verweisen absichtsvoll auf das innere Geschehen als das eigentlich Wichtige. Vergegenständlicht ist dieses innere Geschehen im Spiegel des Titels. Der billige kleine Handspiegel, den Zelihan vom Aga geschenkt bekommt, scheint für alle das Materielle übersteigende Bedürfnisse des Menschen zu stehen. Die Bilder, die er zurückwirft, sind wahrnehmbar, aber nicht greifbar, so wie Zelihans Sehnsüchte spürbar, aber nicht erfüllbar sind, zumindest in einer Gesellschaft wie der türkischen. Der tragische Irrtum Necmettins liegt darin, daß er die Normen eines Systems, das sein persönliches Glück verhindert, instinktiv befolgt. Er verteidigt seinen wertvollsten „Besitz“ Zelihan mit Gewalt, wie er es gelernt hat; er ersticht am Ende sogar seine einzige Kuh, weil Zelihan sich zärtlich an ihren Hals schmiegt.
Die Macht der Gewohnheit ist stärker als die Erfahrungen, die er durchlebt hat: der Spiegel liegt in der letzten Einstellung des Films unbeachtet am Boden, ohne daß Necmettin seine „Botschaft“ begriffen hätte. Solange es aber die Agas und Necmettins gibt, wird sich an den Verhältnissen in der Türkei nichts ändern. Alle Hoffnung muß sich auf die stumm Leidenden, auf die Zelihans, richten, denn sie fühlen dunkel, daß die Gewalt nicht nur die zerstört, die sie erfahren, sondern auch die, die sie ausüben.