Kurische Nehrung
Kurische Nehrung
Ralf Schenk, film-dienst, Nr. 16, 31.07.2001
Andere Regisseure hätten vermutlich mit Aufnahmen vom einstigen Sommerhaus Thomas Manns angefangen: den kennen die deutschen Zuschauer; da werden sie aufmerksam – nicht so Volker Koepp. Er eröffnet seine „Kurische Nehrung“ mit Bildern des Himmels, mit unvergleichlichen Wolkenbergen, die über das Wasser und die Dünen ziehen. Dazu faucht der Wind ins Mikrofon, es ist wie am Ende der Welt oder an ihrem allerersten Tag. Mit „Kurische Nehrung“ setzen der Regisseur und sein brillanter Kameramann Thomas Plenert die Erkundung des einstigen deutschen Ostens fort, der längst polnisch, russisch oder litauisch geworden ist. „Kalte Heimat“ (fd 31 619) über Ostpreußen und „Herr Zwilling und Frau Zuckermann“ (fd 33 698) über die Bukowina mögen zwar die stärkeren Filme sein, geschichtsträchtigere, dichtere, mit Hauptfiguren, die den Zuschauer stärker berühren; aber auch „Kurische Nehrung“ hat seine Meriten. Plenerts Bilder gehören unbedingt dazu, und eine wohlüberlegte Dramaturgie, die verbale Kommentare weithin unnötig macht.
Ein schönes Beispiel dafür ist, wie Koepp den litauischen, also ökonomisch prosperierenden Teil der langgestreckten Halbinsel mit dem russischen Gegenstück vergleicht. Eine junge Bernstein-Designerin antwortet auf die Frage, warum sie nie zu den russischen Nachbarn fahre, sie habe gehört, es sei traurig, dort zu sein, alles sei so kaputt. Aber Koepp und Plenert schwenken daraufhin nicht irgendwelche verfallenden Dörfer ab; sie lassen vielmehr einen russischen Filmvorführer eine Kopie von Wassili Schukschins „Kalina Krassnaja – Roter Holunder“ (fd 19 625) einlegen und blenden dessen Anfangsszenen, den Häftlingschor und das melancholische Lied von den Abendglocken ein. Streng genommen ist das nicht mehr Dokumentar-, sondern schon ein Schritt zum Spielfilm, auf jeden Fall aber eine große poetische Idee. Erst danach folgen Sequenzen, in denen russische Arbeiter in ihrer düsteren Werkhalle hocken, untätig unter alten Lenin-Bildern und Aktivisten-Diplomen auf Beschäftigung harrend. Damit ist alles gesagt, alles gezeigt. Koepps Filme funktionieren nicht in erster Linie durch nüchterne, sachliche Information, sondern durch emotionale, gleichnishafte Bilder.
Ins Zentrum des Films rückt Renate, eine der wenigen nach dem Zweiten Weltkrieg in Nidden verbliebenen deutschstämmigen Einwohnerinnen. Sie erzählt von sich und ihren Geschwistern, die elternlos aufwuchsen; von ihrer Arbeit in der russischen Fischfabrik; vom ersten Tanz mit dem aus Moskau hierher kommandierten Soldaten Boris, mit dem sie seit Ewigkeiten verheiratet ist und normalerweise nur russisch spricht: „Er ist so wie ein harter Apfel. Er will auch nicht seine Sprache vergessen.“ Am Anfang scheint es, als ob Renate die deutschen Worte mühsam aus dem Gedächtnis kramen müsste; später sind sie alle wieder präsent. Was man einst gelernt hat, kommt zurück, wenn man es trainiert: es sei wie das Auswerfen der Netze, mit denen man früher in der Kindheit die großen schwarzen Raben fing, eine Spezialität auf den Mittagstischen der Einheimischen. Koepp läßt diese alte, seit den 50er-Jahren nicht mehr praktizierte Jagd noch einmal nachspielen; er inszeniert gewissermaßen Tradition und entreißt sie so dem Vergessen: vielleicht ein letztes Mal, doch nun für immer auf Film gebannt. Renate hat auch das Schlußwort, mit der bewusst ans Ende gesetzten, wiederum gleichnishaften Geschichte, wie sie ihrem lange verschollenen Vater in der Bundesrepublik begegnete. Damals war sie schon 48 und noch nie im Westen gewesen. Als sie den alten Mann besuchte, der nach dem Krieg in Deutschland geblieben war, hatte er ganze hundert Mark für sie übrig. Doch als sie dann das Begrüßungsgeld erhielt, noch einmal hundert Mark, nahm ihr der Vater diesen Schein gleich wieder ab. Für die Fahrkarte nach Hause und damit sie nicht übermütig werde. So kann es sein mit den Verwandten im Glück. Die weiteren Aussichten, auch die für die Kurische Nehrung, sind unentschieden.