Die Eroberung der Mitte
"Die Wahrheit ist ein Ozean."
Michael Girke, film-dienst Nr. 15, 16.07.2009
Robert Bramkamps Film "Die Eroberung der Mitte" (1996) hebt an mit Vorgängern einer Gruppentherapie. Männer und Frauen stehen im Kreis, Berührungsformen werden erprobt. Als ein Mann zögert, meint der hinzutretende Klinikleiter: "Du hast wohl Angst, richtig zuzuschlagen." Als der Mann daraufhin einer Frau eine schallende Ohrfeige gibt, lautet der Kommentar des Leiters: "Du machst wohl alles, was man Dir sagt." Später, als die Gruppe um Unterbrechung und eine Mahlzeit bittet, gibt er zur Antwort: "Heute wird durchgearbeitet. Ihr sollt nicht fressen, sondern spüren."
Man horcht auf. Was ist das eigentlich für ein Tonfall? Soll man von Ironie sprechen? Das ginge vielleicht an, denn so reden diejenigen, die mit der Heilung der menschlichen Seele befasst sind, normalerweise nicht. Weder in der Wirklichkeit noch in Film und Fernsehen. Und Ironie knüpft sich immer an unpassendes Verhalten, an eine Verletzung gesellschaftlicher Spielregeln. Bloß dass der Begriff der Ironie genauer modifiziert werden muss. Denn hier handelt es sich nicht um den Tonfall von Comedians, mit dem in Deutschland stets jede Intellektualität verächtlich gemacht wird. Nein, die dem Klinikleiter in den Mund gelegten Worte definieren die Lage: die Sprache dieses Therapeuten Mark Stroemer lasst das nackte Interesse an ökonomischem Erfolg Wort werden. Solch "unpassendes" Sprechen und Handeln zieht sich durch den ganzen Film, Stroemer sammelt die Aufzeichnungen seiner Patienten, klebt diese zusammen, verpasst ihnen – je nach neuestem Trend auf dem Gesundheitsmarkt – Überschriften und gibt das Ganze dann als von ihm geschriebenes Buch heraus; er arbeitet mit einem Arzt zusammen, der falsche Diagnosen erstellt, damit die im Unklaren gelassenen Patienten auch ja wiederkommen zur endlosen Therapie. All dies wird nicht einfach mit entlarvendem Gestus abgetan. Dass Bramkamp-Filme mitunter als schwierig empfunden werden, dürfte dem Umstand geschuldet sein, dass es bei diesem Regisseur kein Gut und Böse nach den Maßstäben irgendeiner Romantik gibt. Gegenstände wie der Therapie-Boom werden als Denkform verstanden, als System, das längst in das Verhalten der Menschen dringt, ihre Sicht der Dinge mitprägt.
Der zwielichtige Therapeut Stroemer hat eine Mitarbeiterin und Gegenspielerin mit dem sprechenden Namen Wolke Donner. Diese hält, so wie es Figuren in Filmen von Jean Luc Godard zu tun pflegen, häufig ein Buch in Händen. Nicht irgendein Buch natürlich, sondern Tzvetan Todorovs "Die Eroberung Amerikas", eine Untersuchung der Entdeckung und Zerstörung des amerikanischen Kontinents seit Kolumbus. In dieser Weise verbindet Bramkamp Historisches mit Aktuellem, macht Kontexte greifbar. Fragen hängen im Kinoraum: Weist der Anspruch unseres Gesundheitswesens, alles zu umschließen und zu beherrschen, nicht verwandtschaftliche Züge mit dem Verhältnis der Europäer zu Menschen fremder Kultur und Denkart auf? Ist das permanente Übersetzen von Fremdheit, Ferne, Dunklem in Bekanntheit nicht zwangsneurotisch und also zerstörerisch?
Am Ende von "Die Eroberung der Mitte" wird angedeutet, dass beide Hauptfiguren sich gegen eine Welt zu stemmen versuchen, die alles Unberechenbare zunehmend verbannt. Wobei Bramkamp den Weg ins Offene nicht in Form einer schönen Hoffnung auf später verschiebt, sondern ihn selbst geht: mittels der ästhetischen Form des Films. Sein Vorgehen: Er mischt Filmgattungen und Erzählstile. Schon in seinem ersten Langfilm "Gelbe Sorte" (1987) sind Szenen aus dem deutschen Landleben kontrapunktisch montiert mit alten – dokumentarischen und propagandistischen – Bildern aus dem China der kommunistischen Kulturrevolution. Der von Bramkamp porträtierte Münsterländer Jungbauer versteht es, das mitunter absurde Subventionssystem der EU so auszunutzen, dass sein Hof überlebt. Die Montage mit den China-Bildern mag erweisen: Kühl analysierendes Vorgehen ist der heutigen Zeit angemessener als alles Kopieren Maos. Was wohlgemerkt keine wohlfeile Kritik linken Denkens ist. Bramkamp ist ein Gegner eines jeden Idealismus – schon gar eines Idealismus des Kinos. Weswegen seine Werke immer auch Gegenbilder sind, Auseinandersetzungen mit anderen Filmen und Bildern.
Sucht man nach filmgeschichtlichen Ahnherren Bramkamps, so muss neben Jean-Luc Godard auch Alexander Kluge genannt werden. Diesen Filmemachern gemeinsam ist, dass sie alle klassischer Dramaturgie mit Wandlung des Helden und Einfühlung auf Seiten des Zuschauers abzuschütteln versuchen. Denn die herkömmliche Kinoästhetik bedeutet: mehr Aktion und weniger kritische Reflexion. Was eine freie, dichterische Erkundung des Menschen und der Welt verhindert, im Namen der Unterhaltung den Konventionen und Ideologien zuarbeitet.
Filme eines avancierten künstlerischen Kinos deutet man oftmals so, wie der Kritiker Georg Seeßlen Bramkamps "Eroberung der Mitte". Dieser Film, so Seeßlen, zeige "hinter dem Text wird nicht die Wirklichkeit, sondern immer nur ein anderer Text sichtbar". Stimmt diese Formel? Besagt sie nicht, die Substanz der Lebenswirklichkeit sei Text, und blendet somit die Welt der Gegenstande, Körper, Räume aus? Ist ein Text – oder ein Film – nicht lediglich ein Mittel, um die Lebenswirklichkeit besser zu verstehen?
Wie nun bei Robert Bramkamp? Eine Antwort gibt sein Meisterwerk "Prüfstand 7" (2002). Dieser Film erzählt von einer ganz und gar wunderlichen Figur, einem von Inga Busch gespielten Gespenst namens Bianca, das suchend in Deutschland umherzieht. Das Motiv der Reise und Suche ermöglicht es, den Stoff des Films höchst spannungsreich vor Augen zu führen: die Geschichte der Rakete. Wobei der Zuschauer vieles erfährt: dass die Rakete im Ursprung eine sehr deutsche Kreation war; dass Fritz Lang dieses Thema bereits 1928 für das Kino bearbeitete; wie die Nazis in Peenemünde an der Ostsee die militärische Nutzung der Rakete erproben ließen und wie Wernher von Braun dort eine elitäre Zukunftsstadt im Geiste einer wissenschaftlichen Lebensweise errichtete; dass man die V2 von Häftlingen des im Harz befindlichen KZ "Mittelbau Dora" bauen ließ, wobei Tausende von Juden durch diese Arbeit gezielt vernichtet wurden; dass die Rakete nach dem Weltkrieg Werkzeug im Propagandakrieg zwischen Kapitalismus und Kommunismus wurde und derart ihren Status als "Wunderwaffe" eigentlich immer beibehielt. Unaufhörlich wechselt Bramkamps Film zwischen dokumentarischer Faktenwiedergabe, gespielten Szenen und erläuternden wie forschenden Exkursen hin und her. Ganze Kapitel haben sogar einen anderen Verfasser: Die Figur der Bianca bewegt sich mitunter in Szenarien des legendären Raketenromans "Die Enden der Parabel" von Thomas Pynchon; die polyphone Erzählweise dieses Buchs dient Bramkamps Film als Vorbild, das jedoch inhaltlich auch kritisiert und erweitert wird. Bis der Film auch dieses wieder beiseite schiebt, um das Wirken von Weltraumforschern und Freizeitparkplanern in der deutschen Gegenwart zu dokumentieren.
Der Filmemacher Bramkamp scheint es darauf anzulegen, jede Vorstellung von einer "normalen" Filmkomposition zu enttäuschen. Allein seine Gestaltung ist wohlbedacht. Sie verdankt sich dem Umstand – und gerade dies wird gezeigt –, dass ein gutes Stück der modernen Technikgeschichte als psychologisches Symptom zu verstehen ist. An die Rakete waren und sind utopische Erwartungen geknüpft, uralten Wachträumen und Jenseits-Hoffnungen der Menschheit gleich, Anrufungen des großen Sternbilds, das Auswege aus bedrückend empfundenen irdischen Realitäten verspricht. Wie aber in jene Region des Seelischen dringen, die sich jenseits des Sichtbaren befindet? Hier findet Bramkamp die Lösung eines Filmkünstlers: Die Figur der Bianca verkörpert gleichsam das Verdrängte der Realgeschichte. Sein Film ist der Weg des Verdrängten ins Bewusstsein. Ein, wie man auch ohne alle Psychologie weiß, schwieriger und holperiger Weg.
In den l950er-Jahren, auf der Suche nach den Ursachen für den Zweiten Weltkrieg, für Hiroshima und Nagasaki und für die zunehmende Veränderung der Natur, notierte der Schriftsteller Ernst Niekisch: "Angesichts einer immer komplizierter werdenden Wirklichkeit muss der Dichter heute in der Haltung des Wissenschaftlers an seinen Gegenstand herantreten". Forderungen an die Kunst einer neuen Epoche, denen der Filmemacher Bramkamp auf seine Weise nachkommt. Allerdings gerät seine wissenschaftliche Haltung eines Künstlers in einen Widerspruch, "Prüfstand 7" legt den Schluss nahe, eine wissenschaftliche Erfindung wie die Rakete geriete mitunter in falsche Hände und würde allein dadurch zum Werkzeug der Zerstörung und des Todes. Aber dies haben Bertolt Brecht und Friedrich Dürrenmatt gezeigt – Ursachen für Katastrophen der Neuzeit sind auch in der wissenschaftlichen Rationalität selbst zu finden: in ihrem Anspruch der Neutralität gegenüber allen ethischen Werten beispielsweise. Dies ist ein Pol der verstörenden Dialektik unserer wissenschaftlich geprägten, technologisch-technischen Moderne – die außer Acht zu lassen zu naiver Wissenschaftsgläubigkeit führt.
Diesen Punkt zu erwähnen, schmälert nicht Robert Bramkamps Kunst. "Prüfstand 7" mit seinen vielen Erzählhaltungen ist deutlich vom Denken einer so genannten Postmoderne geprägt. Bloß dass der Film nicht den Weg in ein bloßes Text- und Denklabyrinth weist, sondern einen in die Realgeschichte. Bis heute gibt es Versuche, die Opfer der ersten Rakete, die bei ihrer Herstellung und durch ihre Abschüsse massenhaft getöteten Juden und Engländer, vergessen und unsichtbar zu machen. Durch Gedächtnisverlust würde unsere Kultur jedoch zum Unort. So ist "Prüfstand 7" stark angetrieben davon, den Ansprüchen der Toten zu genügen, weiterhin aufmerksam wahrgenommen und bedacht zu werden. Was "Prüfstand 7" zum Gegenprogramm gegen jede Raketenfaszination macht.
Der Kulturapparat tut sich schwer mit modernen und zugleich aufklärerischen Kunstformen. Es war der amerikanische Schriftsteller Herman Melville, dem sein Verleger anlässlich des Manuskripts der Geschichte vom weißen Wal "Moby Dick" verärgert vorwarf, dieser Roman sei doch wohl zu umfangreich geraten. Woraufhin der Schriftsteller zur Antwort gab; "You must have plenty of searoom to tell the truth in." Ein Ozean voll Wahrheit – welch treffende Bezeichnung auch für Bramkamps "Prüfstand 7". Wobei die ozeanische Weitschweifigkeit des Regisseurs sich nicht akademischem Schulwissen verdankt, sondern den Eigenheiten seiner Person. Eigentlich nie – dies lässt sich bei seinen öffentlichen Auftritten erleben – gibt Bramkamp einen Sachverhalt bloß wieder. Vielmehr verknüpft er in rascher Auffassungsgabe Fakten mit historischen und philosophischen Fragestellungen, sodass der Raum mit Geschichten und Zusammenhängen angefüllt ist. Bramkamp gehört nämlich zur Spezies der mündlichen Denker. Bei ihm ist das Sprechen keine Ersatzform für anderswo besser Ausgedrücktes, sondern eine hoch bewegliche, situative Denkform in eigenem Recht. In eben dieser Weise vermag Bramkamps Filmpoetik des Verknüpfens der Formen etwas, was weder das dokumentarisch abbildende noch das fiktive und schon gar nicht das journalistische Fach allein vermögen das Körperliche und das Seelisch-Gedankliche als eine Wirklichkeit zu zeigen; lauter verborgene, überspielte oder unterdrückte Dimensionen des Realen gleichsam hereinzuholen, sie zur Erscheinung zu bringen und dadurch verarbeitbar zu machen. Das Diesseits, der Alltag der Menschen, verstanden als eigentliches Wunder.