Symphonie diagonale

Deutschland 1923-1925 Kurz-Experimentalfilm

Abstrakter Film


Siegfried Kracauer, Frankfurter Zeitung, Nr. 195, 13.3.1928


Die Berliner Gesellschaft Neuer Film hat sich das Ziel gesteckt, statt der üblichen Spielhandlungen solche Bildstreifen zu zeigen, die scheinbar aus dem Geist des Films selbst geboren sind. Nicht Übersetzungen literarischer Stoffe in die stumme Sprache der Optik, sondern ursprünglich optische Vorgänge, die in keine andere Sprache zu übertragen sind. Deutsche und französische Filmregisseure haben schon seit Jahren Versuche dieser Art angestellt; Gelegenheit, sie im Zusammenhang kennen zu lernen, hatte man aber bisher eigentlich nur in den Pariser Avantgarde-Kinos. Die Gründung der Berliner Gesellschaft ist umsomehr gutzuheißen, als sie ihre Programme auch der Provinz zugänglich machen will.

In der gestrigen Frankfurter Veranstaltung wurden einige Studien vorgeführt, die sowohl die Möglichkeiten wie die Grenzen der neuen Filmbestrebungen erkennen ließen. Vorauszuschicken ist, daß es sich fast durchweg um Versuche handelt, die, wenn nicht zeitlich, so doch zum mindesten ihrer Absicht nach, Zeugnisse des Expressionismus sind, das heißt jenes Kunstwollens, das Gehalte ohne Gegenstand geben zu können meinte.

Eine "Diagonal-Symphonie" Viking Eggelings (1917 !) bewegt Lichtstreifen, helle Gräten und andere geometrische Bruchstücke in einem gewissen Rhythmus durcheinander. Es ist, als seien Bilder von dem Genre bestimmter Werke Picassos lebendig geworden. Hans Richters: "Film-Studie”, zu der Hans Heinz Stuckenschmidt die musikalische Illustration geliefert hat, läßt durch ein Wolkenchaos Kugeln steigen, die sich in Augen verwandeln; setzt Pflastersteine in ein Gittergeflecht um, das zu taumeln beginnt. Deutlicher noch wird durch den Film "Emak Bakia" von Man Ray die Herkunft der abstrakten Motivik aus richtigen Gegenständen veranschaulicht. Wasserreflexe sind in ihm zu fremdartigen ornamentalen Gebilden destilliert, und mit gewöhnlichen Stehumlegkragen werden reizende Bewegungsspiele getrieben. Der Film des Grafen Étienne de Beaumont schließlich gewinnt seine strahlenden Lichteffekte aus Gläsern, die sich langsam drehen, und widerscheinenden Spiegeln. Da es ihm auch um den visuellen Aufweis von Schnelligkeiten zu tun ist, kurbelt er in rasendem Tempo Metro- und Dampferfahrten durch Paris.

Es kommt darauf an, was mit diesen Filmen gewollt wird. Gewiß ist, daß sie desto mehr bedeuten, je anspruchsloser sie auftreten. Erschlossen wird durch sie tatsächlich in einer bisher ungeahnten Weise eine neue Welt von räumlichen Konfigurationen. Optische Eroberungen großen Stils sind nicht nur jene Filmfragmente, in denen eine starre Ornamentik zu merkwürdigen gymnastischen Übungen entfesselt wird, sondern auch alle Bildserien, in denen, sei es durch die Wahl des Blickpunkts, sei es durch Isolierung von Teilobjekten, aus der uns vertrauten Dingwelt Motive herausgehoben und variiert werden, die den bekannten Aspekten nicht mehr entsprechen. Die beliebige Abwandlung abstrakter Figuren und konkreter Gegenstände ist ein dem Film vorbehaltenes Thema, das er gar nicht weit genug ausbauen kann. Denn dadurch, daß er dieses Thema angreift, bereichert er das Inventar unserer Vorstellungen um Formen und Zeichen, die alle einmal Gehalt zu werden vermögen. Aber – und das ist wesentlich –: derartige Entdeckungspartien sind sich nicht Selbstzweck. Was sie einheimsen, ist Material, das erst der Verwendung in echten Zusammenhängen harrt. Indem die gezeigten Filme zum überwiegenden Teil sich als Kompositionen gebärden, erheben sie fälschlich das Material zum Gehalt und werden damit hohl und manieriert, wie der Expressionismus als fixierte Kunstrichtung es war. Eggeling glaubte, die Umtriebe seiner Diagonalen seien eine Symphonie, und auch die andern reihen ihre Impressionen zu einem Ganzen aneinander, von dem sie vorgeben, es stelle etwas Ganzes dar. Ihre Wendung gegen den Spielfilm zugunsten des gegenstandslosen Films ist indessen, der künstlerischen Haltung nach, nur eine posthume Revolution, deren Unfruchtbarkeit auf den Gebieten der Malerei und der Wortkunst längst am Tag liegt. Wären die Kompositionen noch Träume in der Bildersprache – aber auch das sind sie ihrer zu systematischen Fügung wegen nicht einmal. Sie sind, um es in aller Schärfe zu sagen, eine wie immer stilisierte Sammlung von Ausdruckselementen, die, zu selbständigen Gebilden verknüpft, nicht das mindeste ausdrücken, weil sie in ihrer leeren Vereinigung genau desjenigen Bezugs auf die Wirklichkeit entraten, der ihnen allein Bedeutung verliehe. Wie die expressionistischen Gemälde werden auch die Filmsymphonien im Kunstgewerbe versanden. Zur Nutzbarmachung der neu gefundenen Raummotive bedürfte es des Verzichts auf die Behauptung ihres Eigenwerts. Diese Motive und Kombinationen sollten sich nicht gegen den Wirklichkeitsfilm als eine Sondergattung etablieren, sondern ihn durchwachsen, um ihm vollere Wirklichkeit zu schenken (wie es übrigens in manchen Filmen schon geschehen ist). Sie bedeuten etwas, wenn sie das Leben der Menschen und Dinge intensiv vergegenwärtigen helfen, statt sich ihm gegenüber zu sperren. Nur durch die engste Bindung an die in jeder künstlerischen Darstellung zu treffende Realität, nicht aber durch die Emanzipation von ihr, erlangen sie den Sinn gehaltvoller Zeichen. Was sind im Vergleich mit einer einzigen Grimasse Chaplins sämtliche abstrakten Kompositionen? Ihre Elemente könnten seiner Menschlichkeit dienen.

"P’tite Lili", der einzige Figurenfilm des Programms, ist von Alberto Cavalcanti nach einem Chanson gedreht. Der hübsche Gedanke, einen Schlager zu verbildlichen, ist in dem übrigens schon ein paar Jahre alten Film mit viel Esprit und photographischem Witz durchgeführt worden. Die charmante Moritat, die man der noch kaum gepflegten Gattung der Kammergroteske zurechnen könnte, läßt die üblichen amerikanischen Grotesken weit hinter sich.

Die Matinée war von dem Frankfurter Rundfunk veranstaltet worden, dessen Leiter Dr. Flesch einige Begrüßungsworte sprach. Es sprach auch ein Herr von der Gesellschaft Neuer Film, der glaubte, das Vorhaben der Gesellschaft philosophisch begründen zu sollen. Das Publikum, das den Darbietungen mit Anteilnahme folgte, beklatschte in einer schönen Aufwallung ungewohnten Temperaments die Entfernung des Rednerpults.

Siegfried Kracauer: Werke. Band 6. Kleine Schriften zum Film. Herausgegeben von Inka Mülder-Bach. Unter Mitarbeit von Mirjam Wenzel und Sabine Biebl. 3 Teilbände. © Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. Alle Rechte vorbehalten. Verwendung mit freundlicher Genehmigung.

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