Das Mirakel
Bravo, Goldsoll!
Lichtbild-Bühne, Nr. 26, 16.5.1914
Es geschehen noch Zeichen und Wunder. – Selbst die ältesten und tüchtigsten Praktiker innerhalb unserer Branche haben bisher immer ihre höchste Aufgabe darin erblickt, den Film als Rolle zum Vorführungsraum hinaufzugeben, damit er vorgeführt wird. Mit dieser sichtlichen Willensentschließung war die Disposition beendet. Der Kinomann hatte damit seine Pflicht getan, und jetzt wartete er nur noch auf das Publikum, das ihm das Geld bringen sollte. Und es kam jahrelang. Bei solch einfacher direktorialer Tätigkeit war es kein Wunder, daß vor Jahresfrist mal das Sachverständigenurteil gefällt wurde, daß der Kinobesitzer keinerlei künstlerische Qualifikation zu besitzen braucht. Sehr richtig; denn einen Film zum Vorführer hinaufzuschicken, diese Großtat kann jeder Neuling auch.
Wenn wir nun auch seit Jahren schon immer predigen, daß der zweimalige Programmwechsel, der das Kinotheater zur Wartehalle, die Filmkunst zum Engroß-Akkord, die Theaterfront zum Trödelladen und das Publikum zur Handelsware degradiert, unbedingt zum Ende unseres Lateins führen muß, wenn wir auch immer forderten, daß der Kinoleiter sein Theater individuell, nicht nur rein technisch, führen darf, daß wir uns bühnenmäßig dem Theater und Variété nähern müssen, daß der Film selbst eine gewisse Aufmachung bei der Vorführung braucht: unsere Mahnungen verhallten umsonst.
Wir können es nicht abstreiten, daß der Film jetzt auf seinen toten Punkt gekommen ist, da die ewige trockene Technik die notwendig daraus resultierende Kinomüdigkeit erzeugen mußte. Selbst die ältesten und scheinbar gewiegtesten Brancheleute und Theaterhasen klagen über die schlechten Geschäfte. Sie geben immer noch einen Film zum Vorführer hinauf, und immer noch ein Besucher geht zum Tempel – hinaus.
Wir haben jahrelang geschlafen! Der Kino-Neuling Goldsoll, der Variétékenner, kommt zu uns und muß uns zeigen, wie es gemacht wird. Er weiß, daß Professor Max Reinhard nach Berlin kommt, um "Mirakel" im Zirkus Busch zu spielen. Er weiß vorher, daß er wochenlang ausverkaufte Häuser machen wird. Er weiß, daß das Publikum selbst bei höchsten Preisen kaum reinkommen kann. Er weiß aber auch, daß Menchen in London die Sache gefilmt hat und da läßt er sich den Film "Mirakel" kommen, um ihn gleichzeitig auch am Reinhardt"schen Premièrentage zu spielen. Zu dieser Intelligenz würde sich eventuell auch ein Kinofachmann aufschwingen können. Goldsoll gibt aber nun nicht laut Kino-Tradition den Film einfach zum Vorführer hinauf, sondern läßt die Theaterluft mit Weihrauch schwängern, damit Stimmung entsteht. Er läßt eine großartige Musik mit Glockengeläute etc. instrumentieren. Er läßt eine plastische, wunderbare Bühnendekoration als szenische Umrahmung für den Film herstellen. Er läßt Beleuchtungs-Effekte anwenden, am Anfang lebende Nonnen und Chorknaben etc. auf die Bühne kommen und präsentiert am Schluß die leibhaftig engagierte Muttergottes für die Bühnenmitte. Der Effekt des Films "Mirakel" ist dadurch so kolossal, daß täglich das Theater übervoll ausverkauft ist. Der Film hat durch Aufmachung so gewaltig an Wert gewonnen, daß Begeisterte sogar sagen: das Ganze wirkt besser wie das Original.
Das aufgelegte Geschäft ist so glänzend, daß die ganze Gilde der Kino-Praktiker, die jetzt über ihre leeren Häuser klagen, sich einfach schämen müßten.
Gehet hin und versucht, aus dieser "Mirakel"-Vorführung Konsequenzen zu ziehen. Reibt Euch den Schlaf aus den Augen und ruft neidlos mit uns: "Bravo, Goldsoll!"