Und wenn sie nicht gestorben sind - dann leben sie noch heute... Die Kinder von Golzow. Das Ende der unendlichen Geschichte

Deutschland 2007/2008 Dokumentarfilm

Wege ins Leben

Von Katharina Dockhorn, epd Film, Nr. 03, 2008

Auf stolze 700 Jahre kann Golzow in diesem Jahr zurückblicken. Zum
Festkomitee gehört natürlich Winfried Junge, der das kleine Dorf im
Oderbruch nahe der polnischen Grenze mit seiner Filmsaga ins Guinness-Buch
der Rekorde brachte und Golzow zum kleinsten Ort der Welt mit einem eigenen
Filmmuseum machte. In einem Teil der Schule wird an die Dreharbeiten
erinnert, die wenige Tage nach dem Mauerbau am 28. August 1961 begannen und
2005 endeten. Jetzt kommen mit "Und wenn sie nicht gestorben sind - dann
leben sie noch heute... Die Kinder von Golzow". Das Ende der unendlichen
Geschichte (Teil 3 und 4) die beiden letzten Teile mit fünf Porträts in die
Kinos und runden die Beobachtung der Lebensläufe der Golzower des Jahrgangs
1955 ab.

Ein Abschied für immer ist es für die Junges nicht. "Wir werden nicht nach
Golzow ziehen, sondern in Berlin bleiben, um endlich die Angebote der Stadt
zu nutzen, wozu bisher wenig Zeit war. Wir werden aber immer wieder dorthin
zurückkehren", wirft Winfried Junge einen Blick voraus. Wohl nie werden er
und seine Frau Barbara, die ihm seit 1978 als Schnittmeisterin, Archivarin
und Koregisseurin zur Seite steht, ganz Abschied von den Golzowern nehmen
können. Jetzt muss erst mal das Material in seiner Höhle, wie er das kleine
Büro in der Neubauwohnung in Berlin-Friedrichsfelde getauft hat, geordnet
werden. Ebenso die Filmmaterialien im Schnittraum in Johannisthal. Die
Negative wandern ins Bundesfilmarchiv. Der Schneidetisch und etliche
Originalrollen gehen nach Golzow. Einige ihrer Filmkinder, so hoffen die
Junges, können daraus eine eigene Ortschronik schneiden. Zeit hätten sie,
weil sie in der strukturschwachen Gegend keine Arbeit finden.

Solche Schicksale gehen den Junges an die Nieren. Sie sind für die Golzower
schon lange mehr als Chronisten, die aus 180 Stunden gedrehten Materials
sechs kurze und 14 abendfüllende Dokumentarfilme schnitten. Sie wurden
Freunde, die jederzeit an der Wohnungstür des anderen klingeln können, und
Teil der Dorffamilie. Sie erleben einen intimen Moment, wenn die 11-jährige
Ilona mit ihrer Freundin Lehrerin spielt. Später sind sie bei deren
verpatzter Matheprüfung dabei. Sie filmen Momente des Glücks und teilen die
Trauer nach dem Tod von Brigitte, die ihren Sohn Marcel alleine großziehen
will und mit 29 aus dem Leben scheidet. Später nehmen sie Abschied von
Jürgen, der nach langer Alkoholabhängigkeit an Speiseröhrenkrebs erkrankt
ist und sie wenige Tage vor seinem Tod ein letztes Mal umarmt.

Die Junges und die Golzower sind sich nah, weil die Biografien der
Brandenburger ebenso wie die ihrer Chronisten eng mit dem Werden und
Vergehen der DDR und der Ankunft im wiedervereinten Deutschland verwoben
sind. Winfried Junge, Jahrgang 1935, gehörte 1954 zu den ersten Studenten
der Potsdamer Filmhochschule. "Ich war einer der Jüngsten und bin der
Letzte, der noch arbeitet." Er entschied sich für Dramaturgie, weil er den
Spielfilm liebte, sich die Regie aber nicht zutraute.

Damals wusste Winfried Junge bereits, dass das fiktionale Erzählen nicht
seine größte Stärke ist. Mit seiner genauen Beobachtungsgabe hat er sich im
Dokumentarfilm etabliert, zu dem er zufällig kam, als er gegen die
grundlose Exmatrikulation von der HFF protestiert hat. Bei der DEFA wurde
Karl Gass sein Mentor. Dessen agitatorischer Stil war nicht Junges Sache.
Trotzdem vertraute ihm Gass das Golzow-Projekt an, das er gerne selber
verwirklicht hätte.

Golzow kam nicht zufällig in den Blickwinkel der Filmemacher. Die
Infrastruktur mit einer gerade eingeweihten Schule entsprach den
Idealvorstellungen, nach denen junge Menschen in den Sozialismus
hineinwachsen sollen. Dem offiziellen Glanzbild allerdings verweigerte sich
Winfried Junge getreu seinem 1962 formulierten Credo, nichts überzeuge mehr
als das Leben selbst. Er bewies Gespür für Zwischentöne, was ihm neben
seiner ruhigen und ausgleichenden Art und seiner Ehrlichkeit das Vertrauen
der Golzower einbrachte. In sechs kurzen Dokumentarfilmen begleitete er die
Kinder bis 1975 auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Dann hätte für den
Regisseur Schluss sein können. Eigentlich wollte er sich nicht auf ein
Projekt festlegen lassen. 35 weitere Dokumentarfilme zu anderen Themen hat
er bis 1989 gedreht.

Ende der siebziger Jahre gab Winfried Junge doch dem Wunsch nach, eine
Zusammenfassung zu schneiden. Die Voraussetzung schaffte seine Frau
Barbara, die erstmals Ordnung in das Filmmaterial brachte und bis heute
jeden Schnipsel auflistet. "Danach sagte man uns, man hätte zwar die
Chronik der Klasse erlebt, aber den Einzelnen und seine Probleme nicht
richtig kennengelernt." Es folgen die Lebensläufe - Die Geschichte der
Kinder von Golzow in einzelnen Porträts (1980), der erste Film im Forum der
Berlinale, bei dem die Junges Stammgäste wurden.

Die Zuschauer waren weltweit begeistert von diesem lebendigen Blick auf den
Alltag, der Privates und Zeitgeschichte verknüpft und Geschichte von unten
beschreibt. Nun wurde den Mächtigen im ZK der SED und im Filmministerium
das Projekt suspekt. Die Junges sollten nach 1984 nur noch mit den
Fortschrittlichen, den Genossen, weiterdrehen, hieß es. Junge spürt, dass
er seiner Konzeption hätte abschwören müssen. Wieder wehrt er sich. Nach
einer wortgewaltigen Beschwerde bei Egon Krenz über die Beschränkungen ist
das Geld für weitere Jahre gesichert. Es reicht bis Anfang der neunziger
Jahre. Wieder steht das Projekt vor dem Aus. Winfried Junge versteht es
wieder, sich Verbündete zu suchen, ARD-Anstalten, ARTE und Förderer.

Es gebe mehr Verlierer- als Gewinnergeschichten, resümiert Barbara Junge
die Lebenswege der Golzower. Drei der 18 unschuldig mit der Kamera
flirtenden Sechsjährigen, die sie 20 Jahre begleiteten, wollten nach 1989
nicht mehr gefilmt werden. Die Junges geben nie auf und lassen den Kontakt
nicht abreißen. Doch Gudrun, die Tochter des LPG-Vorsitzenden Artur Klitzke
und später Bürgermeisterin im Nachbardorf, findet nicht mal die Zeit, sich
den Abschnitt des Films anzusehen, der ihre Biografie bis 1991 umfasst.

Den Junges ist das Bedauern über die Entscheidung anzumerken. Nicht nur,
weil ein Faden ins Leere läuft. Sie wären wohl neugierig auf ihre Reflexion
der Jahre in der DDR. Auf Wertungen durch belehrende Kommentare oder
didaktische Fragen, die bei der DEFA manchmal notwendig waren, können sie
heute verzichten. Auch das reflektiert den Wandel, den sie mit ihren
Golzowern durchlebten.

Mit dem Mauerfall erhielt das Projekt eine andere Perspektive, fing im
Kleinen ein, wie der Traum von den schnell erblühenden Landschaften in
Erfüllung ging oder zerplatzte. Das Dorf habe sich verändert, platzt es aus
Jürgen Weber heraus. Er will nun den Ort verlassen, in dem seine Familie
seit Jahrhunderten lebt. Bürgermeister Christian Dorn ist trotzdem stolz
auf das Dorf. Und auf das Lebenswerk der Junges, da es nichts
Authentischeres über die Lebensumstände in der DDR und nach der Wende gibt.

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