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Dokumentarfilm von Volker Koepp, der diesmal in das Gebiet um Kaliningrad reist, eine Region, die geprägt ist von entvölkerten Dörfern und brachliegenden Feldern. Die Kinder, die hier leben, wachsen häufig ohne elterliche Betreuung auf und sind sehr früh gezwungen, Verantwortung für sich und ihre Geschwister zu übernehmen. Zwischen dem verbreiteten Alkoholismus und der alltäglichen, beiläufigen Gewalt der Erwachsenen, versuchen diese Kinder, einen Weg ins Leben zu finden – wobei sie sich mit erstaunlicher Lebenslust und Humor eine kindliche Gegenwelt entwerfen: Ein Weg, um ihre Zuversicht und ihre Hoffnung trotz der oft trostlosen Lebensbedingungen nicht zu verlieren.
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Koepp erwähnt knapp und gänzlich ohne erhobenen Zeigefinger, dass Stalin die Deutschen vertrieben und Russen aus der ganzen Sowjetunion stattdessen in Ostpreußen, heute eine russische Exklave zwischen Litauen und Polen, angesiedelt hat. Seine Reise in die Region Kaliningrad ist eine zu den Kindern, die in mittlerweile dritter Generation hier geboren wurden. „Holunderblüte“ lebt von ruhigen, unspektakulären Bildern und auf Deutsch untertitelten O-Tönen der vor Koepps Kamera erstaunlich unbefangenen Kinder, Erwachsene kommen unmittelbar nicht vor. Und sind doch latent ständig vorhanden in den erschreckenden Schilderungen der Kinder: „Wenn die Trinker nicht wären, könnte man auch hier bleiben.“
Die Natur erobert sich sechzig Jahre nach Flucht und Vertreibung das heute weitgehend entvölkerte Land zurück, die einst landwirtschaftlich genutzten Flächen verkrauten und versumpfen, die Gebäude, auch größere Kirchen, so sie nicht als Getreidespeicher genutzt werden, verfallen. Koepp und sein Kameramann Thomas Plenert zeigen, und das im Wandel der Jahreszeiten, zunächst sehr idyllisch anmutende weite Landschaften unter großen Wolken-Gebirgen, kein Horizont ist erkennbar. Störche nisten in norddeutscher Backsteingotik, die aber bei näherem Hinsehen dem Verfall preisgegeben ist. Eine Hochzeitsgesellschaft posiert zum Gruppenfoto vor einem deutschen Denkmal aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, es hätte auch irgendwo anders sein können. Nur ein einziges Mal stellen Koepps Bilder einen Bezug her zwischen dem früheren Ostpreußen und der heutigen Region Kaliningrad: Als Kinder Räuber und Gendarm spielen in ungenutzten, aber offenbar noch intakten unterirdischen Luftschutzbunkern.
Armut, Arbeitslosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Alkoholismus – es ist ein düsteres Bild, dass Koepps Film durch die Augen der Kinder zeichnet, deren Väter hier im Durchschnitt nur 55 Jahre alt werden. Und dennoch lässt es sich hier leben – als Kind. Mit winterlichen Impressionen schließt der Film: die Fischerboote sind an Land gezogen, Kinder fahren Schlitten und liefern sich Schneeballschlachten – wie überall auf der Welt, wo Schnee liegt.
Pitt Herrmann