Der Passagier - Welcome to Germany

BR Deutschland Schweiz Großbritannien 1987/1988 Spielfilm

Im Transit

Thomas Braschs neuer Film



Karsten Witte, Die Zeit, 06.05.1988

Tony Curtis sagt: "Baruch sits here". Er sitzt im Maskenraum vor dem Spiegel und gibt eine Regieanweisung an die Kamera. Aber es ist keine höfliche Aufforderung, sich niederzulassen. Denn Baruch ist tot, der Regisseur allein. Seine englische Anweisung ist eine Beschwörung deutscher Vergangenheit. Wenn Curtis den Maskenraum verläßt und den Kameramann nervös antreibt, ihm zu folgen, bei seinem Vorspielen von Baruchs Tod, ahnt man, daß ein Verzweifelter das Rätsel seines Lebens in einer gewaltigen Kunstanstrengung sucht.

Ein Schuß fällt aus dem Dunkel. Tony Curtis bricht wie tot über den Eisenzacken eines Lagertors zusammen. Die Eingangsszene chiffriert die Schuldigen. Der Vorspann dokumentiert die Mitwirkenden dieser Fiktion. Der dann folgende Film entwirft Varianten zur Lösung: Wie könnte es gewesen sein?

Ein Amerikaner in Berlin präsentiert seinen Paß. Er ist unruhig bei dieser Identitätskontrolle und möchte sich schon am Flughafen Tegel in seine Arbeit stürzen. Der Mann im weißen Anzug ist Mr. Cornfield, Fernsehregisseur aus Hollywood, reich und bekannt geworden durch seine Serien über Hunde und Pferde. Jetzt hat er Höheres im Sinn: seinen eigenen Fall, ohne Netz und doppelten Boden. Ein Studio ist angemietet, Kleindarsteller werden zu Probeaufnahmen bestellt. Das Filmteam verharrt in Ratlosigkeit, der Regisseur in Unrast. Die von ihm beschäftigten Personen begeben sich auf die Suche nach einem Autor.

Das Drehbuch entsteht von Tag zu Tag. Die Mitwirkenden wissen nichts mit ihm anzufangen, der Autor weiß nur, was er mit ihm beenden will: verdrängte Geschichte. Gleich nach der Ankunft erzählt er die Story einem Fernsehreporter. Zu Zeiten des Faschismus wird in Berlin ein antisemitischer Propagandafilm gedreht. Dem Regisseur Körner wird, um den Eindruck eines glaubwürdigen Realismus zu erzeugen, erlaubt, aus einem KZ jüdische Gefangene für seinen Film zu engagieren. Als Gage wird ihnen die Freiheit im Schweizer Exil versprochen. Der Film platzt. Die verpflichteten Juden werden in die Todeslager transportiert.

Als Nagelprobe für seinen Film gilt dem Regisseur Cornfield, wenn die Rollenbewerber einen jüdischen Witz aufsagen. In dieser Revue, deren Nummern brutal durch die geschlagene Filmklappe unterbrochen werden, sagt ein Kandidat statt des Witzes eine Strophe von Heine auf: "Ein Jüngling liebt ein Mädchen, / Die hat einen andern erwählt; / Der andre liebt eine andre, / Und hat sich mit dieser vermählt." Das ist eine alte Geschichte, doch auch sie ist ein Baustein, die Story des Films "Der Passagier" zu tragen.

Der Rabbiner im Lager (George Tabori), der die Auswahl der Darsteller im Nazifilm verantworten soll, sagt in der Überblendung zum Film-im-Film seinem Regisseur im weißen Anzug, der nun Körner heißt (Matthias Habich): "Sie erzählen also in Ihrem Film von der unglücklichen Liebe unserer beiden Völker." Mit einem politischen Regie-Auftrag schickt der Rabbiner die Männer seiner Wahl ins Filmstudio: "Dann geht in die Welt und kehrt heim als Sieger!" Zudem springt er noch ein als Souffleur einer ziemlich klischeehaften Shylock-Szene am Rande.

So entsteht unter unseren Augen der zweite Film: mit einem dritten Regisseur, dem Rabbiner mit der prophetisch traumverlorenen Stimme. In seiner "Selektion" – dies Wort, an der Rampe von Auschwitz gebildet, muß streng gesehen such für diesen Kunstauftrag gelten – sind zwei junge Männer, Freunde, die wie Brüder füreinander einstehen: Janko und Baruch. Als sie erfahren, daß ihr Regisseur, der Gnade Goebbels" verlustig, sein Versprechen auf die Freiheit für die Juden nicht einlösen kann, wollen die Komparsen fliehen. Die Maskenbildnerin Sofie (Katharina Thalbach) soll beiden zu einer neuen Haut verhelfen.

Aber niemand kommt aus seiner Haut, am wenigsten der Regisseur, der das Dilemma einer erinnerten Schuld inszenieren will. Der Hollywood-Erfahrene wird hilflos. Mal tyrannisch, mal halbherzig fixiert er eine Szene vor der Kamera, um sich im eigenen Dilemma zu verkriechen. Wie kann er ein Geschehen nachstellen, in das er selber als Zeuge (Janko) verwickelt war, ohne je den Tod seines Freundes (Baruch) als Augenzeuge erlebt zu haben?

Die Maskenbildnerin drückt es mit einer Shakespeare nachempfundenen Metapher aus: "Die Augen sind zwei Lügner." Sie nämlich glaubt, die ganze Wahrheit zu kennen. Mit einer blonden Perücke verhalf sie Janko zur Flucht vom Drehort. Dafür brachen ihr die Nazis das Rückgrat. Wie eine Furie des Nichtverschwindens der Erinnerung taucht die Figur Sofie als alte Frau am heutigen Drehort auf, um Cornfields Film zu demontieren. Sie ist die vierte Regisseurin, die sich auf die Suche nach der Autorenschaft macht.

Die Komplikation, die Thomas Brasch anzettelt, kennt kein erleichterndes Ende, das Schuld durch Sühne tilgte. "Der Passagier" ist ein Film, der die Stories, die Genres quälend in Frage stellt. Die Linearität der üblichen Erzählweise wird hier unterminiert. Wenn die Augen zwei Lügner sein sollen, muß auch das Gesicht der Wahrheit Trugbild sein. Daß Filmarbeit immer ein Stück Phantasmagorie verspricht, blitzt hier wieder auf. Kurosawas "Rashomon" wie Bertoluccis "Konformist" wären die Paten des "Passagiers", wobei im Titel selbstredend noch der Verweis auf den nachgelassenen Film "Die Passagierin" des polnischen Regisseurs Munk steckt. Darin ging es um die Facetten einer möglichen Erinnerung, wie sie ein KZ-Opfer und ihre Schergin bei einer plötzlichen Wiederbegegnung traumatisch teilen.

Das dokumentarische Unterfutter zu diesem Stoff liegt auf der Hand. Veit Harlan und Leni Riefenstahl holten sich, um ihre deutsche Art des Realismus aufzumöbeln, aus Ghettos und Lagern Juden und Zigeuner vor die Kameras. Kurt Gerron, verfolgter, schon in die Niederlande emigrierter Regisseur, wurde von den Nazis eingefangen und in Theresienstadt zwangsverpflichtet, für eine Delegation des Internationalen Roten Kreuzes den Propagandastreifen "Der Führer schenkt den Juden eine Stadt" zu drehen. Das nahm Brasch als Ausgangsmaterial für seine Recherche, allerdings nur, um die Erkenntnistheorie von Geschichte in Zweifel zu ziehen. Sein Film entwirft eine Möglichkeit der Geschichte, und sei sie auch aufreizend unbequem, verstörend.

Spiegelungen, Verdoppelungen, scheinidentische Paare: das sind die visuellen Figuren dieses Films. Jede auftretende Person hat einen Schatten, der sich auf ihre Identität legt und eine Delle hinterläßt. Cornfield und Körner treten in Namensgebung und Kleidung wie Zwillinge einer professionellen Deformation auf, Janko und Baruch, der Tor und der Gerissene, wie ungleiche Brüder; die SS-Wachen wie kaustische Totengräber in einem Königsdrama. Jeder Darsteller ist auf seine Weise Passagier im Transit, der eine Rolle annimmt, die sich bietet, neben ihm plötzlich wächst und mit dem Gewissen Vexierspiele treibt, die unabsehbar waren.

"Der Passagier" ist ein Breitwandfilm, der sein einladendes Format dem Blick ständig entzieht. Er nötigt den Zuschauer zur Suchbewegung im Bild. Der Kopf muß der Kamera nachschwenken, will er folgen. Anstatt die brennenden Fragen .zu zentrieren – gibt es hier Schuld, wie ist von ihr zu sprechen? –, stellt sie die Perspektive an den Rand. Oft ist ein gutes Drittel des Bildfeldes verdeckt. So wird der Raum, den es zu entdecken gilt, nur zögernd freigegeben. Zudem wird er in ein stark stilisiertes Schwarz-Weiß gestürzt, aus dem nur wenige Objekte sich in Rot absetzen dürfen. In dieser Farbe ist Katharina Thalbach auffällig kodiert.

Was sich in der Montage des Films als spiegelbildliche Wiederholung einer vorausgegangenen Szene ankündigt, ist Augentäuschung, nur nachgemacht, doch eine Variante. Die kaum merkliche Abweichung vom einmal hergestellten Bild, vom Konsens mit dem Zuschauer, wird zum Thema in "Der Passagier". Seine gelegentlich unnötig verschlüsselten Bilderrätsel flüchten sich dabei nie in die Beliebigkeit. Nicht das Gegenteil geschichtlicher Gewißheit gilt, sondern das Kalkül, dem Zweifel ein flüchtiges Bild zu verleihen.

Am Ende vermag der Regisseur Tony Curtis ohne Larmoyanz sein Scheitern zu erkennen. Sein Entschluß, die Arbeitskopie seines Films zu zerstören, ist kein Plädoyer, Erinnerungen zu löschen. Immerhin wurde ein Versuch der Vergegenwärtigung unternommen; aufgegeben daran wurde die erhoffte Vergewisserung, es ließe die Geschichte sich in bloßer Subjektivität auflösen. So wie die Dokumentation "Shoah" der Serie "Holocaust" antwortete, so stellt "Der Passagier" in seiner Form "Shoah" neue Fragen.

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