Run, Lola, Run: Die Karriere eines Films
Einen Monat vor Drehbeginn schrieb Tom Tykwer den Schauspielern und Teammitgliedern einen Brief zur Einstimmung. Filmemachen sei oft wie ein Hindernislauf. "Aber manchmal kommen dabei Filme raus, die trotzen den angeblichen Gesetzen des Erzählens und des Marktes und des Geldes, und die sind trotzdem mitreißend und klug, emotional und intelligent. Machen wir doch mal so einen."
(Film)geschichte wird gemacht
Er hat ihn gemacht. Ein Geniestreich: Vom dramaturgischen Konzept ein Experimentalfilm, in der Realisierung ein cineastisches Feuerwerk, im Kino ein Publikumshit, der auch ein Jahr nach der Uraufführung noch Zuschauer ins Kino zog und die deutsche Filmlandschaft verändert hat. Der 20. August 1998 wurde ein bedeutendes Datum: "Lola rennt" startete mit 208 Kopien, hatte in der ersten Woche 360.000 Zuschauer und erreichte auf Anhieb Platz 3 in den Charts (nach "Lethal Weapon 4" und "Akte X: Der Film"). Für Brancheninsider war eine andere Zahl noch entscheidender: der Kopienschnitt – 1.734 Zuschauer pro Kopie (dagegen erreichten die 689 bzw. 649 Kopien von "Lethal Weapon 4" und "Akte X" lediglich 833 bzw. 717 Zuschauer). In der zweiten Woche rückte "Lola rennt" vor auf Platz 2, in der dritten Woche war der Film on the top: Platz 1 mit knapp einer Million Besuchern. Monatelang konnte sich der unkonventionelle Film neben US-Blockbustern und heimischen Beziehungskomödien in den oberen Rängen der deutschen Kino-Charts behaupten.
Universell unkonventionell
Hinterher sind es alles nur noch Anekdoten: dass die Altersfreigabe "ab 12 Jahren" erst im Widerspruchsverfahren erstritten werden musste, weil die Bedenkenträger die "Gewaltdarstellung" monierten. Dass keine Plattenfirma den Soundtrack veröffentlichen wollte, weshalb man vier Wochen vor Kinostart ein neues Label gründen musste – und dann bekam "Wish" mit Franka Potente und Thomas D. für 250.000 verkaufte Singles eine Goldene Schallplatte (von der CD wurden rund 100.000 Stück verkauft). Dass Wella das Angebot zur Cross-Promotion ablehnte und damit eine einmalige Chance ausließ, während ein anderes rotes Produkt Lola für sich nutzte: Sechs Millionen Ketchup-Flaschen von Kraft zierten die roten Haare der Speedqueen. Dass die Majors bei dem Verleih Prokino anriefen und die Zahlen nicht glauben wollten, wobei man in der Münchner Zentrale eigentlich selbst überrascht war: Nach den Testscreenings korrigierten die Verleihprofis ihre Erwartungen zwar nach oben (und erhöhten die Kopienzahl), doch die Messlatte hatte man, "Trainspotting" war die Vorgabe, auf eine Million Besucher gesetzt. In der "Welt" war anlässlich des Kinostarts zu lesen: ""Lola rennt" wird Tykwer – wagen wir die Prognose – deutschlandweit bekannt machen." Der Film ging dann um die Welt. Erst auf Festivals – Montreal, Venedig, Toronto, Sundance, Seattle, San Francisco –, wo sich der Erfolg bereits abzeichnete, anschließend konnte er flächendeckend in viele Territorien verkauft werden. "Lola rennt" spricht, was man sonst nur Hollywood-Produktionen zugesteht, eine universelle Filmsprache.
Deutsches Wunderwerk
Erstaunliche Nachrichten aus L. A.: Ein deutscher Film zog die Hollywood-Prominenz ins Kino. Winona Ryder, Julia Roberts, James Cameron sahen "Run, Lola, Run" im Nuart Theater, vermeldete die "Los Angeles Times". Die Low-Budget-Produktion, gezeigt als OmU, wurde als cineastisches Wunderwerkgefeiert. Das Fachblatt "Entertainment Weekly" vergab die Bestnote A: "Tykwer hat, 40 Jahre nach Godards revolutionärem Debüt, einen wahrhaft atemberaubenden Film gemacht." Landesweit wurde "Lola rennt" in der amerikanischen Presse groß herausgestellt. Franka Potente kam auf das Titelblatt von "Time Out", Tom Tykwer erhielt eine Titelgeschichte in "Filmmaker", dem Independent Filmmagazin. Von der "Boston Globe Review" bis zur "Seattle Times", vom "Hollywood Reporter" bis zum "Wall Street Journal": Ausnahmslos bekam der Film in der Kritiker-Wertung dreieinhalb oder vier Sterne. Der Film hatte nur einen Makel, das MPAA-Rating "R", "Restricted because of some violence and language". Zu den euphorischen Besprechungen kam das typisch amerikanische Boxoffice-Spiel: knapp 500.000 Dollar Einspiel in zwei Wochen, Platz 20 in den Charts, in den Top Ten von Manhattan auf Platz acht. Der Soundtrack kletterte auf Platz fünf der Billboard Electronic Albumcharts.
Hip and light – Lola erobert Hollywood
Der US-Start erfolgte in New York, zunächst in vier Kinos, darunter das Angelika Center in Soho. Die New Yorker waren gut vorbereitet: Ein halbes Jahr zuvor hatte "Run, Lola, Run" die gemeinsam vom Lincoln Center und Museum of Modern Art veranstaltete Reihe "New Directors / New Films" eröffnet und begeisterte Kritiker gefunden. Janet Maslin " schwärmte in der "New York Times" von der Intelligenz und Gewitztheit des Films, der atemberaubenden, vorwärts treibenden Kraft, dem innovativen Potenzial. Eine wahre Hymne: "Tykwer verbindet visuelle Tricks, die das Tempo von Lichtgeschwindigkeit haben, unerschöpflich wechselnde Stile und die unbegrenzten Möglichkeiten interaktiver Narration." Dem Film war ein Ruf vorausgeeilt: Beim Sundance-Festival und bei den Filmfestivals in San Francisco und Seattle hatte "Lola rennt" Preise gewonnen. Sony Pictures Classics brachte den Film bewusst klein heraus, um halbleere Kinos zu vermeiden. Erst in der vierten Woche erhöhte man die Kopienanzahl und ging in 70 Kinos, später wurden es 172. Es war die richtige Strategie – der US-Verleih wusste, so Michael Barker von Sony, dass es für einen deutschen Film, auch wenn er "hip and light" ist, schwer zu überwindende Barrieren gibt: Man kann sie nur erfolgreich unterlaufen, während der Versuch, sie mit einer Blockbuster-Strategie zu überspringen, mit Sicherheit gescheitert wäre.
The Germans are coming
Diese Erfahrung hatte man wenige Monate zuvor in Frankreich gemacht: Der Verleih ARP Selection brachte "Cours, Lola, cours" in synchronisierter Fassung mit 165 Kopien und viel Promotion in die Kinos. Das Ergebnis war ein Desaster: 45.000 Zuschauer in der Startwoche; das waren magere 270 Zuschauer pro Kopie. Dabei hatte ARP-Chef Philippe Kaempf sich bemüht, die deutsche Herkunft herunterzuspielen und dem Film ein internationales Image zu geben. Es half nichts: "Das Publikum scheint gegen das heutige deutsche Kino allergisch zu sein", konstatierte das Branchenblatt "Le Film français" nach dem Flop. In den USA dagegen wurde die Frage "How German Is It?" nur vereinzelt gestellt. Das Thema wurde als universell erkannt (und die Erscheinung des "young Berlin Hipster named Lola" erinnerte manchen Kritiker an den maskulinen Look des Comic-Zeichners Robert Crumb)."Run, Lola, Run" spielte in den USA sieben Millionen Dollar ein (dort werden nicht Besucher gezählt, sondern nur Dollars). Das zweitbeste Ergebnis aller Zeiten für einen deutschsprachigen Film, nur "Das Boot" erzielte 1982 bessere Zahlen. Tom Tykwers Film ist Vorreiter für das junge deutsche Kino. Verwundert stellte ein US-Kritiker fest: "The Germans are coming."
Zit. nach: Michael Töteberg (Hg.): "Szenenwechsel. Momentaufnahmen des jungen deutschen Films". Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1999