Herz
Herz
Josef Lederle, film-dienst, Nr. 7, 26.03.2002
Das menschliche Herz ist ein seltsamer Muskel: elastisch, belastbar und robuster als ein Dieselmotor, pumpt es Tag für Tag riesige Mengen Blut durch den Organismus, ohne je müde zu werden oder mehr als ein paar Stunden Nachtruhe für die Regeneration zu haben. Und doch ist es empfindsam genug, seelische Stimmungen mit feinen Signalen widerzuspiegeln. Lange bevor die Mediziner in der Renaissance die biophysischen Funktionen zu sezieren begannen, hat sich diese Sensibilität des Herzens in der Sprache niedergeschlagen, in der kaum eine wichtige Metapher ohne Rekurs auf die pulsierende "Mitte" auskommt. Auch in Horst Sczerbas episodischem "Herz"-Drama findet die verästelte Handlung in der Titelinstanz ihr eigentliches Zentrum: als plakatives Symbol, aber auch als schwer greifbare Wirklichkeit hinter den Erlebnissen und Schicksalen einer Hand voll Figuren, die eine gemeinsame Leidenschaft teilen: die Lust am Tauchen, am Schweben unter Wasser. Der Zustand annähernder Schwerelosigkeit, in dem die Taucher mit wenigen kleinen Bewegungen ihr Gleichgewicht austarieren, hilft manchem auch über die Nöte und Anfechtungen des Alltags hinweg. "Tropical Dive" haben sie ihre kleine Kölner Tauchschule deshalb getauft, auch wenn die Kamera nur trübe, grünstichige Gewässer durchstreift und selbst der Titelsong, "Perlentaucher" von Gerd Köster, eher bodenständige Töne anschlägt. Diese Spannung zwischen prosaischer Realität und einem wie auch immer gearteten Ausgriff auf Imaginäres prägt alle Figuren: den türkischen Dolmetscher Cem, der sich während einer Gerichtsverhandlung in die Angeklagte verliebt und ihr auf den Spuren von Cyrano de Bergerac fingierte Liebesbriefe schreibt; Dora, eine leicht frustrierte Mittvierzigerin, die ein Sonnenstudio betreibt und jedem gerne ihr Ohr leiht, damit sie ihre eigene Einsamkeit nicht spürt; auch Marlis, Mutter der sechsjährigen Marie, die sich auf eine Affäre mit dem Tauchlehrer Marcel einlässt, während ihr Mann Günther als Werkzeugvertreter durch die Lande fährt; selbst Georg, der abgeklärte Ermittler aus dem Morddezernat, der nicht versteht, warum sich seine Frau vor seinen "Leichenfingern" ekelt, weiß manchmal um Sphären, in denen weder Ursachen noch Fakten zählen. Der dramaturgische Faden, an dem die vielen Episoden lose aufgereiht sind, spinnt sich um den Notarzt Martin, der zu Beginn eine Selbstmörderin reanimiert, die sich mit Frostschutzmittel umbringen wollte. Auch nach ihrer medizinischen Rettung kämpft der engagierte Arzt weiter darum, dass das junge Frau, fast noch ein Mädchen, ihr neugewonnenes Leben auch annehmen kann. Seine Frau wartet derweil zuhause auf die Niederkunft ihres dritten Kindes.
Nahe am täglichen Leben wollte Horst Sczerba ("Die Unschuld der Krähen") schon immer sein, und auch seine Ausbildung als Arzt schimmerte in früheren (Fernseh-)Filmen gelegentlich durch, in denen eher Menschen aus Fleisch und Blut als künstlich ersonnene Figuren agierten. Trotz CinemaScope und Carl F. Koschnick hinter der Kamera wirkt Köln in seinem ersten nur fürs Kino inszenierten Film deshalb nicht wie in einem Werbespot, sondern so unübersichtlich und vital, wie es die Kombination aus mittelalterlichem Stadtbild und einer eher südländischen Lebenseinstellung hervortreibt. Auch die Spannweite der Figuren, vom Kiosk-Betreiber über den Trucker bis zur isländischen Übersetzerin, streckt eine Wirklichkeit ab, die in deutschen Kinofilmen eher selten, im Fernsehen dagegen weit häufiger anzutreffen ist. Dass man dem bewegten Geschehen auf der großen Leinwand trotzdem seltsam unbeteiligt folgt, hängt unter anderem mit den Tücken von Ensemblefilmen zusammen, deren feinmaschiges Erzählgeflecht sich nicht immer wie in "Short Cuts" (fd 30 588) oder "Magnolia" (fd 34 178) zu einer nahtlosen Einheit verschmelzen lässt. Obwohl die meisten Episoden mit Hingabe in Szene gesetzt und von unverbrauchten Darstellern mit viel Leben gefüllt werden, fehlt ein durchgängiges, zwingendes Moment; öfters hätte man sich - sowohl für die Charaktere als auch für die Zuschauer - mehr Zeit und Raum zum Atmen gewünscht. Die Absicht, starke Figuren und flüchtige Begegnungen zu einem ebenso realistischen wie zutiefst menschlichen Drama zu vereinen, ist zwar zu spüren, wird aber nicht überzeugend eingelöst. "Herz" wirkt manchmal wie eine Fleißarbeit, bei der viele spannende Aspekte rund um das "Herz"-Thema zusammengetragen wurden, ohne dass daraus mehr als eine beachtliche Materialsammlung wird. Für die Feinheiten des Films, sein inneres Gleichgewicht und seine sympathische Entschlossenheit, dem Leben und nicht der Verzweiflung das letzte Wort einzuräumen, bleibt deshalb kaum mehr als ein Schulterzucken.