Lumpen und Seide
Lumpen und Seide
Film-Kurier, Nr. 9, 10.1.1925
Unvergessen, solange es einen Kintopp gibt, werden dem Regisseur Richard Oswald seine Berliner Sitten- und Milieuschilderungen bleiben, die Serie von dem Film "Kurfürstendamm" über "Manolescu" bis zum "Haus in der Dragonergasse", einem der besten Filme, die überhaupt je in Deutschland gemacht wurden.
Hier griff einmal eine ungeduldige und in ihrer Naivität unglaublich kühne Theaterhand fest zu. Hier pfiff einmal ein geborener Filmmann wirklich so, wie ihm der Schnabel gewachsen war – Cynismen, Sentimentalitäten, Schnoddrigkeiten, Witze und Witzchen, oft blendende, manchmal mittelmäßige, manchmal bloß unanständige, aber durch all das blitzte ein Humor des wirklichen Lebens, ein harter Blick für Lebenstatsachen, ein mitleidiger Blick für Lebensresignationen – –. In dieser Linie setzt der neue Film Oswalds wieder ein – nach einem mehrjährigen Intermezzo mit historischen Großfilmen. Es ist inzwischen alles etwas gemäßigter geworden, weniger unbefangen, weniger frech-kühn, weniger umschmeißend; das Motto "Pour épater le bourgeois" könnte nicht mehr darüber stehen – aber dafür beginnen neue Keime zu sprossen: die Finessen der neuen Einstellungs- und Spielregie, des "Erotikon" und der "Ehe im Kreise", haben seine Regiekunst befruchtet, es ist alles mimisch voller, eleganter und präziser disponiert, es klingt sozusagen melodiöser im Auge. Das Bloß-anekdotische seiner Schauspielerregie (das allerdings blendend war) sucht Wege und Möglichkeiten, mit dem Bildrhythmischen, Bildmusikalischen der neueren Regietendenzen zusammenzuwachsen. Hier schwankt Oswald manchmal noch; aber in den langen, durchgearbeiteten Spielszenen ist es oft vollendet gelungen. Das Manuskript – von Heinz Goldberg und Adolf Lantz – ist sehr gut auf diese innere Situation abgepaßt. Es ist vielleicht sogar ein bißchen zu sehr "über der Situation", zu leicht, zu flatternd, zu verplaudert (es gibt ja auch ein Bild-plaudern) für den heutigen Oswald, der ja immer noch zu guten drei Vierteln ein Tatsachenregisseur ist: man lernt eben nicht an einem einzigen Film Spitzentanzen; aber auch das ist in Ordnung, das Manuskript müßte doch wohl diesen kleinen Vorsprung haben, um den Regisseur immer wieder nachzuziehen, und das ist diesem Manuskript auch fast immer gelungen, und was für ein Verdienst das ist, sieht man e contrario an mancher recht lose sitzenden Regieimprovisation dort, wo das Manuskript nachgelassen hat. Aber der Gesamteindruck von Regie und Manuskript ist der einer ruhigen und sehr angenehmen Ausbalancierung zwischen Bildeinfall und Anekdote. Absolut ferne von jeder Aufdringlichkeit, aber auch ferne von jeder preziösen Überspitztheit: also das, was man einen durchaus gelungenen Spielfilm nennt. Wohl überflüssig, bei Oswald hinzuzufügen, daß auch alles Technische – Photographie, Einstellungstechnik, Bildschnitt – tadelfrei ist.
Unter den Darstellern ragen vor allem Reinhold Schünzel und Maly Delschaft hervor. Schünzel ist diesmal unerschöpflich – vielleicht manchmal zu unerschöpflich – an Einfällen, Strichelchen, Farbentupfer zu der sehr merkwürdigen und originellen Porträtstudie eines sentimental-süßlich-bitteren, gleichzeitig ludenhaft verlotterten und höchst bürgerlich verliebten und verlobten Maxe aus der Ackerstraße: eine nicht wenig komplizierte schauspielerische Aufgabe, so einfach sie aussieht, die nicht bloß so "hinzulegen" war, und die hier bunt, manchmal grell angelegt, impressionistisch skizziert ist. Aber Maly Delschaft ist – übrigens schon seit dem "Letzten Mann" – der ausgesprochene Liebling meiner kritischen Instinkte. Sie hat eine große Zukunft für sich – bis die blondwuscheligen engelsäugigen Bubiköpfe im Film abgewirtschaftet haben werden und das Publikum wieder Sinn haben wird für eine urwüchsige, strotzend-saftige Schauspielerbegabung. (...)