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Seit mehr als 60 Jahren gibt die Pianistin Traude Krüger Klavierunterricht in einem Frauengefängnis, fast als müsste sie selber eine Strafe verbüßen. Eines Tages trifft sie dort Jenny, eine verschlossene, unberechenbare, aggressive junge Frau, die wegen Mordes sitzt. Traude lehnt es zunächst ab, das aufsässige Mädchen als Schülerin anzunehmen, bis sie erlebt, wie Jenny Klavier spielen kann. Einst ein musikalisches Wunderkind, hätte Jenny die Fähigkeit, an Klavierwettbewerben außerhalb des Gefängnisses teilzunehmen, wenn sie sich nur dazu entschließen könnte. Es bahnt sich ein Kräftemessen zwischen der selbstzerstörerischen Insassin und ihrer preußisch strengen Klavierlehrerin an – ein Lebens- und Liebesduell, das an den tiefen, verborgenen Schmerz beider Frauen rührt.
In einem frenetischen Finale bleiben Jenny vier Minuten, um etwas zu tun, das niemand, nicht einmal Traude, von ihr erwartet hätte. Chris Kraus hat die beiden ungleichen Frauen mit der erfahrenen Monica Bleibtreu sowie mit der fast unbekannten Hannah Herzsprung besetzt, die ein furioses, allseits gelobtes Hauptrollendebüt hinlegt. Kontrapunktisch zum Aufeinanderprallen der beiden Frauen steht die Musik, die neben klassischen Stücken von Mozart, Schumann, Beethoven und Schubert ein Glanzstück der Komponistin Annette Focks enthält. Chris Kraus: "Für mich war die Musik bei "Vier Minuten" ein tragendes Element: Nicht als Selbstzweck, sondern als Gegenentwurf zu der grauenhaften Welt, die hinter beiden Hauptfiguren aufscheint."
Quelle: 57. Internationale Filmfestspiele Berlin (Katalog)
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Seit über sechzig Jahren gibt die Pianistin Traude Krüger (nicht nur als Jennys Widerpart eine Idealbesetzung: Monica Bleibtreu) Klavierunterricht in einem Frauengefängnis. Sehr zum Unmut des smarten Direktors (Stefan Kurt), auch wenn dieser den so musikalisch klingenden Namen Meyerbeer trägt. Dem ist der Aufwand für die wenigen Interessenten, unter denen sich mit Mütze (Sven Pippig) sogar ein Wachtmeister befindet, zu hoch.
Eine vor allem zu sich selbst beinharte Traude Krüger freilich lässt sich nicht beirren. Was an ihrer Vergangenheit liegt, die Stück für Stück in Flashbacks offenbar wird. Die Furtwängler-Schülerin (Edita Malovic spielt die junge Traude) galt einst als hoffnungsvollstes Pianistinnen-Talent im Dritten Reich. Dann kam der Krieg dazwischen – und die schöne Hannah (Kathrin Kestler), mit der sie mehr als nur befreundet war. Als die Kommunistin hingerichtet werden sollte, hat Traude ihre Freundin gegenüber einem SS-Sturmbannführer (Christian Koerner) verleugnet.
Die einst überzeugte Nationalsozialistin hat sich das bis heute nicht verziehen. Sie büßt ihr damaliges Versagen bewusst im Gefängnis des Ortes, in dem Hannah und sie als Lazarettschwestern tätig waren. Freilich spricht Traude immer noch von „Negermusik“, die ihr zuwider sei. Und das auch gegenüber einer Schülerin, wie sie noch keine hatte: Jenny (ihre erste große Rolle war gleich der Durchbruch: Hannah Herzsprung). Verschlossen, unberechenbar, (selbst-) zerstörerisch gibt sich das einstige musiksalische Wunderkind, das als Mörderin hinter Gittern sitzt. Und auch ihre eigene verborgene Geschichte hat, in der ihr Vater, Gerhard von Loeben (Vadim Glowna), eine ganz besondere Rolle spielt.
„Ich halte Sie für niederträchtig, das sollten Sie wissen. Aber Sie haben eine Gabe, und damit haben Sie eine Pflicht, Ihre Gabe zu erhalten. Wenn Sie bezahlt haben für das, was Sie heute den Menschen hier angetan haben, dann kann ich Ihnen meine Hilfe anbieten. Diese Hilfe wird sich nicht auf Ihre Person beziehen, niemals. Ich kann Ihnen helfen, dass Sie besser spielen. Nicht dass Sie besser werden. Überlegen Sie es sich“: Traude Krüger findet Jenny abstoßend – als Mensch. Aber faszinierend als Musikerin. Sie weiß, Jenny könnte es schaffen, beim Bundeswettbewerb „Jugend musiziert“ bis in die Endausscheidung zu gelangen. Denn an dieser Ausscheidung könnte sie trotz ihrer Haftstrafe teilnehmen.
Der Unterricht wird zum Kräftemessen zwischen der jungen, aufsässigen Jenny und ihrer geradezu preußisch strengen und dabei so gouvernantenhaft wirkenden Klavierlehrerin. Dieses Kräftemessen mutiert, je weiter die beiden nur vordergründig so grundverschiedenen Charaktere und Temperamente menschlich und musikalisch Fortschritte machen, zum Lebens- und Liebesduell, das an den sorgsam verborgenen Schmerz beider scheinbar so ungleichen Frauen rührt.
Je mehr beide in die Geheimnisse des jeweils anderen eindringen, desto größer wird das Verständnis füreinander. Und umso mehr Anstrengungen unternehmen beide, auf das Finale hinzuarbeiten, das Jenny tatsächlich erreicht. Auch und gerade gegen den Widerstand von Neidern wie dem Wachmann Kowalski (Richy Müller) oder Konkurrentinnen im Kampf um die Vorherrschaft im Zellentrakt wie Ayse (Jasmin Tabatabai). In diesem Finale, für das beide Frauen Robert Schumanns A-Moll-Konzert ausgesucht haben, bleiben Jenny ganze vier Minuten, um etwas zu tun, was niemand, auch die erfahrene Traude Krüger nicht, von ihr erwartet...
„Vier Minuten“ hat nach der Uraufführung am 23. Juni 2006 beim Int. Filmfestival in Shanghai den Hauptpreis bekommen, besonders wichtig für die erst 25-jährige Schauspieler-Tochter Hannah Herzsprung. Denn Luc Besson war Vorsitzender der Jury und wird sich die junge Deutsche gemerkt haben. Preise zuhauf für Darsteller, Drehbuch und Szenenbild gabs anschließend auf zahllosen weiteren Festivals. Am 1. Februar 2007 in die deutschen Kinos gekommen und am 25. März 2010 von Arte erstausgestrahlt, ist dieses klassische Melodram nicht großes Hollywood-, sondern großartiges Gefühlskino in Kammerspiel-Manier und mit Schauspielern, die in jeder Phase der bisweilen etwas ausufernden und allzu beladen wirkenden Geschichte der beiden Protagonistinnen glaubwürdig wirken, so authentisch wie die Architektur des Spreewald-Gefängnisses zu Luckau.
Pitt Herrmann