Phänomen Indianerfilm
Auszug aus: Klaus Wischnewski, Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg 1946-1992, Berlin, 1994, S. 220-223
Von 1966 bis 1979 stellt Babelsberg zwölf Indianerfilme in Co-Produktion mit Studios in Jugoslawien, Rumänien, der Sowjetunion, Bulgarien und Kuba her. Es ist die einzige kontinuierliche Erfolgsserie in einem Genre, mit einem Thema, mit sich herausbildenden Teams und Typenbesetzungen. Mit Ausnahme des letzten Films ("Blauvogel"/ RE: Ulrich Weiß), der eine besondere Position einnimmt, entstehen alle in der Gruppe "Roter Kreis", haben meist einen Dramaturgen (Hans-Joachim Wallstein), einen Szenenbildner. Fünf Kameramänner: Otto Hanisch, Eberhard Borkmann, Hans Heinrich, Helmut Bergmann, Wolfgang Braumann. Der erste Film hat zwei Dramaturgen als Autoren: Margot Beichler und Hans-Joachim Wallstein. Viermal erscheint Günter Karl, dreimal Wolfgang Ebeling als Autor. Elf Filme haben sieben Regisseure: der Tscheche Josef Mach und Richard Groschopp sind die "Pioniere", Gottfried Kolditz und Konrad Petzold drehen je drei, Hans Kratzert, Werner W. Wallroth und Claus Dobberke 1972, 1975 und 1978 je einen, polar in Situation und Konflikt, Höhepunkt und Auslaufen der Serie signalisierend: Der Indianer als Politiker ("Tecumseh"), der weiße Desserteur und Renegat als neuer Held an der Seite der Indianer (Dean Reed in "Blutsbrüder"), Gojko Mitić ("Severino") als Heimkehrer und Agitator der Seßhaftigkeit, wider Willen in die alten Kämpfe verwickelt.
Der erste Indianerfilm der DEFA hatte am 18. Februar 1966 Premiere: "Die Söhne der großen Bärin". Noch war nicht abzusehen, wie wenige Premieren es in jenem Jahr geben würde. Noch war von Serie nicht die Rede. Der Film nach dem beliebten, auch wissenschaftlich anerkannten Roman von Liselotte Welskopf-Henrich sollte das Angebotsspektrum im thematisch schwergewichtigen DEFA-Plan erweitern. Seit 1962 war Karl May Kassenfüller in westdeutschen Kinos; DDR-Väter und ihre Kinder aber konnten allenfalls in einem Prager Lichtspielhaus Winnetou und Old Shatterhand begegnen. Indianerromantik in Deutschland hatte immer auch Ersatzfunktion, in ihr kompensierten sich nationale wie gesellschaftliche Defizite, Verluste, Verdrängungen ebenso wie Ideale und Träume. Begeisterung für Indianer schien wertfrei, grenzen- und folgenlos, stand dem nationalen Jüngling ebenso an wie dem verhinderten Rebellen. Der Unterschied zwischen Cooper und Karl Mays ahistorischer Idyllisierung blieb weitgehend unbemerkt, historisch fundiertes Material erreichte nur eine Minderheit.
Die Dakota-Trilogie von Liselotte Welskopf-Henrich bot eine alternative Möglichkeit für den deutschen Indianerfilm: Ethnische und kulturhistorische Treue, geschichtliches Umfeld und reale materielle Interessenkonflikte waren die Basis für Erfindung und Fabel. Eine andere Haltung zum Fremden, Fernen war angesagt: "Wir wollen keine Indianerschlachten, sondern einzelne Menschen hervorheben. Die Indianer sind die Helden dieser Geschichte: Unser Hauptanliegen war, diese Proportionen richtigzustellen." Die "Söhne der großen Bärin" enthält einige Szenen, die fast Kulturfilmcharakter haben, aus dem Bemühen, die durch die Weißen vernichtete indianische Kultur zu respektieren und nahezubringen. Andererseits litt der Film unter Unsicherheiten, Längen und Vereinfachungen. Die Parteinahme für die Indianer führt zu Verzeichnungen der anderen Seite. Dem sensationellen Erfolg tat das keinen Abbruch.
Während zwischen Frühling und Herbst 1966 ein Gegenwartsfilm nach dem anderen abgebrochen oder nicht zugelassen wurde, war der nächste Indianerfilm beschlossene Sache: Babelsberg hatte eine Rettungsboje. Sie war nicht nur zuverlässig, sondern auch ehrenhaft. Der thematische Plan gewann eine sichere "antiimperialistische" Position, die Finanzbilanz ein erfolgssicheres Projekt, DEFA und Publikum trafen sich auf der Ebene "unterhaltend – spannend – und trotzdem lehrreich". Jährlich zu den "Sommerfilmtagen" auf Freilichtbühnen der Städte und in den Urlaubsgebieten ritten die Indianer.
Der zweite Film 1967 greift auf den klassischen Indianerstoff der Zeit um 1740 zurück. Nach Motiven aus Coopers "Wildtöter" entsteht "Chingachgook, die große Schlange, in der Regie Richard Groschopps ein sorgfältiger und gediegener Film, dem Historischen der frühen "reinen" Zeit stärker verpflichtet als dem abenteuerlich Effektvollen. Erst der letzte, der Serie nicht zuzurechnende Film Blauvogel (1979) des jungen, vom Dokumentarfilm kommenden Ulrich Weiß geht wieder so weit zurück. Seine auf den Kulturaspekt und die Einzelfigur orientierte Geschichte eines von Irokesen geraubten und bei ihnen aufwachsenden englischen Siedlerjungen spielt im Siebenjährigen Krieg 1756-63. Der durch den Sieg der Engländer "befreite" und zur Familie zurückgekehrte Blauvogel muß sich zwischen zwei Welten entscheiden: Damit wird, wenn auch noch teilweise unbeholfen, ein anderes Genre und Weltbild anvisiert.
Die anderen Filme greifen Situationen aus dem späteren 19. Jahrhundert auf, da die romantisch-heroischen Illusionen der klassischen Indianerkriege längst gestorben sind, erzählen Vorfälle, in denen die Verfilzung von Kapitalakkumulation und Regierungspolitik, Militäraktion und Banditentum den Alltag des Westens und der Grenze beherrscht. Dabei wird der Unterschied zwischen Indianer- und Abenteuerfilm undeutlich. In "Weiße Wölfe" (1969/ RE: Konrad Petzold) und "Tödlicher Irrtum" (1970/ RE: Konrad Petzold) kommt es dabei zu interessanten Differenzierungen und Konfliktverschärfungen unter den Weißen, unter anderem durch die Figur des "guten Sheriffs", der Opfer der Herren und Gesetze von der Ostküste wird. Das wiederholte und variierte historische Spielmodell, nach dem die Indianer mit Gewalt, Betrug und selbstherrlich erlassenen Gesetzen von ihrem reichen Boden vertrieben und in immer ärmere Reservate gezwungen wurden und die legendäre "frontier" immer mehr "westward" gerückt wurde, ist direkt oder indirekt Ausgangs- und Bezugspunkt der Fabelkonstruktionen.
"Die Söhne der großen Bärin", "Spur des Falken" (1968/ RE: Gottfried Kolditz) und "Weiße Wölfe" erzählen Vertreibung und Ende der mächtigen Dakotas. Ähnliches geschieht den Apachen, nachdem der Sieg über Mexiko 1848 den USA nördlich des Rio Grande freie Hand gibt ("Apachen"/ 1973 und Ulzana/ 1974/ RE: Gottfried Kolditz). Der Häuptling-Held, wie immer dargestellt von dem jugoslawischen Schauspieler Gojko Mitić, der 1963 in den Winnetou-Filmen begonnen hatte, versucht, eine kleine Gruppe des Stammes vor der Vernichtung zu bewahren und im Zug nach Norden und in seßhafter Bodenwirtschaft Rettung und Zukunft zu gewinnen. Der im Grunde immer gleiche Held wird in freundschaftliche und gefährliche Beziehungen zu Weißen gestellt, in persönliches Unglück gestürzt und in die Rolle des Rächers getrieben, so in "Die Söhne der großen Bärin" und "Weiße Wölfe", wobei man in letzterem sogar riskierte, den Identifikationshelden sterben zu lassen.
Einen Grenzfall stellt der Film "Tecumseh" (1972/ RE: Hans Kratzert) dar, der ehrgeizigste und konzeptionell konsequenteste Versuch in Richtung eines historischen Films, der die tragische Ausweglosigkeit indianischer Selbstbehauptungs- und Rettungsversuche im Schicksal des Shawnee-Häuptlings und britischen Brigadegenerals Tecumseh gestaltet. Tecumsehs Idee von einem großen Bund "aller Indianer östlich des Mississippi" geht 1811 im Gemetzel von Tippecanoe durch Verrat und Hinterlist blutig unter. Viele Stämme schließen sich im Krieg 1812/13 den Amerikanern an, Tecumseh verbündet sich mit den Engländern und fällt 1813 in der Schlacht an der Themse. Der Film erfaßt die widersprüchlichen Hintergründe und Zusammenhänge der Politik und erreicht eindringliche Charakterisierungen der weißen und indianischen Hauptakteure. Er sentimentalisiert die Liebesbeziehung zwischen Tecumseh und der Weißen Eileen (Annekathrin Bürger), aber er differenziert die Interessenlagen und Motivationen und erreicht so starke Emotionalität. Er entgeht allerdings nicht der Gefahr der Überfülle an Information, was die Wirkung bei Kritik wie jungem Publikum beeinträchtigte. Bereits ein Jahr zuvor war ein anderer Führer eines legendären Indianeraufstandes zum Titelhelden erkoren worden: "Osceola" (RE: Konrad Petzold). Die politischen Dimensionen und die Charaktere der Hauptfiguren sind hier zwar schwächer profiliert, aber eine deutliche Differenzierung der Nebenfiguren auf beiden Seiten gibt der Handlung Dichte und Lebendigkeit und macht die Kompliziertheit der Konflikte einsichtig. Interessant die Gegensätze zwischen liberaler und Sklavenhaltermentalität und die Solidarität zwischen um ihre Freiheit kämpfenden Indianern und aus der Sklaverei entflohenen Schwarzen.
Die historischen Fakten und die überlieferten Geschichten der Eroberung Nordamerikas und der Vernichtung der Indianer kamen den gesellschaftskritischen Vorstellungen und der Selbst-Legitimation in der DDR und in der DEFA ideal entgegen. Die Dreieinheit von Fortschritt, Genozid und Profit tritt offen und unbestreitbar zutage – und kann selten so kinowirksam vorgeführt werden. Die treffsichere Charakterisierung des DEFA-Indianerfilms als "Synthese von Karl Marx und Karl May" durch die Filmkritikerin Renate Holland-Moritz war dennoch insofern ungenau, als zwar die amerikanische Variante der ursprünglichen Akkumulation mit Karl Marx leicht zu erkennen war und entsprechend dargestellt wurde, Karl May jedoch in zweifacher Hinsicht eher abwesend blieb. Zum einen sah man sich ja im Affront zu ihm und kam auch fast ohne seine verlogene Idylle und deren weiße Sentimentalität aus. Zum anderen aber fehlten den DEFA-Filmen die Fabulierfülle, die Spinn-Phantasie des Karl May, der in unbekümmerter Ignoranz Figuren, Eigenschaften und Eigenheiten erfand, die sich in entsprechenden Situationen und Vorgängen zu bescheidenen, aber dennoch einprägsamen Gestalten mauserten.
Der DEFA-Indianerfilm war nur im Moment des Beginns und nur theoretisch offen für geistige und ästhetische Innovation. Er schloß zeit- und traditionsbedingt sofort den Kompromiß zwischen Genrekonvention und historisch-materialistisch belegter Didaktik. Aber er hat eine sehr landestypische Gratwanderung vollbracht zwischen Annäherung an historische Wahrheiten auf einem Gebiet, wo Lügen und Legenden verbreitet sind, und der Routine eines Genres, das bedient werden wollte. Er hat nie das Niveau der wenigen nordamerikanischen Filme erreicht, die das Frontier- und Westernklischee durchbrechen. Aber er wurde doch ein Unikat in der Filmproduktion der real-sozialistischen Länder mit unleugbarer Langzeitwirkung.
© Henschel Verlag Berlin