Das Wintergartenprogramm der Gebrüder Skladanowsky
Egbert Koppe (Bundesarchiv-Filmarchiv)
Als Max und Emil Skladanowsky am 1. November 1895 im Berliner Wintergarten-Varieté erstmals ihre "lebenden Bilder" zeigten, wussten sie, dass sie Geschichte schreiben würden. Im Wettlauf mit den Gebrüdern Lumière und anderen Tüftlern wollten sie die Ersten sein, die vor zahlendem Publikum Bilder auf einer Leinwand zum Laufen brachten.
Mit einer selbst gebauten Filmkamera hatte Max Skladanowsky im Sommer des Jahres an verschiedenen Orten Berlins Varietészenen aufgenommen. Als Aufnahmematerial nutzte er Negativrohfilm für Fotoapparate, den er auf eine Breite von 54mm halbierte. Die sechs Meter langen Filmstreifen wurden mit bis zu 192 Bildern belichtet. Da der Negativfilm zum Transport in der Kamera keine Perforation besaß, war der Bildabstand jedoch unregelmäßig. Um ein projizierbares Positiv kopieren zu können, musste deshalb der Filmstreifen in mühevoller Handarbeit Bild für Bild auseinander geschnitten und zum Kopieren wieder zusammengesetzt werden. Aus dieser Not machten die Skladanowskys eine Tugend. Sie kopierten die Bilder mit ungerader bzw. gerader Nummer getrennt auf je ein Positivfilmband. Mit Hilfe eines ebenfalls selbst konstruierten Doppelprojektors, Bioskop benannt, wurden die Bilder dann abwechselnd in der richtigen Reihenfolge auf die Leinwand projiziert. Der Vorteil dieser Methode lag auf der Hand: Während bei der Projektion eines einzelnen Filmbandes durch das Abdunkeln während des Transportes von Bild zu Bild ein Flimmern entsteht, überblendet das Bioskop von Bild zu Bild ohne Dunkelphase. Eine Eigenschaft, die sich besonders in Anbetracht der niedrigen Aufnahmefrequenz der Filme von etwa 12 Bildern je Sekunde sehr vorteilhaft auswirkte. Da die Filmstreifen jeweils zu einer Schleife zusammengenietet waren, bot sich darüber hinaus die Möglichkeit, die Szenen mehrmals hintereinander zu projizieren.
Anfang der 1990er Jahre entschied sich das Bundesarchiv-Filmarchiv, die neun kurzen Filme anlässlich des bevorstehenden 100. Geburtstages der Kinematografie im Jahre 1995 unter Anwendung digitaler Techniken restaurieren zu lassen. Trotz intensiver Recherchen fanden sich von den Originalnegativmaterialien nur noch 4 Bilder. Auch von den Positivfilmschleifen waren nur noch Fragmente erhalten. Deshalb wurde auf ebenfalls überlieferte und erstaunlich gut erhaltene 35mm-Nitrofilmkopien zurückgegriffen, die von in den 1920er Jahren ausgeführten Umkopierungen der Originale stammten. Eine Szene war jedoch auch dort nicht überliefert: der Serpentintanz von Mlle. Ancion. Lediglich ein etwa 100 Jahre alter Papierkontaktabzug mit 24 ungeraden Bildern, von 1 bis 47 nummeriert, stand zur Verfügung. Um nun zumindest eine 6 Sekunden dauernde Bildfolge wieder herzustellen, entschied man sich, die fehlenden ungeraden Bilder mit Hilfe der Computertechnik neu zu berechnen. Mit diesem Vorgehen wurden die Grenzen des Verständnisses von Restaurierung sicher überschritten. Allein die nur so gegebene Möglichkeit, dem ursprünglichen Eindruck der ersten Bilder der Filmgeschichte nahe zu kommen, rechtfertigten dieses Experiment.
Die zu dem Titel "Das Wintergartenprogramm der Gebrüder Skladanowsky" zusammenmontierten Filme sind zwischen 6 und 16 Sekunden lang und werden in der vorliegenden Fassung jeweils einmal wiederholt. Standbilder markieren Beginn und Ende einer Szene. Die Zwischentitel sind in ihrer Gestaltung Glasdias nachempfunden, die ursprünglich während des Filmwechsels eingeblendet wurden.
(Dieser Text bezieht sich auf die Kompilation "Das Wintergartenprogramm der Gebrüder Skladanowsky", die vom Bundesarchiv-Filmarchiv in Zusammenarbeit mit der Stiftung Deutsche Kinemathek zusammengestellt und restauriert wurde.)