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"Keine Ahnung, wie mein Leben mit einem anderen Beruf verlaufen wäre. Aber mittlerweile ist der Bergbau ein Teil von mir." Trans* Frau Martina ist die einzige Frau, die je in Deutschland im Steinkohlebergbau gearbeitet hat. Nun arbeitet sie im Salzbergbau. Ihre früheren Kumpel fahren zur letzten Schicht hinunter in den dunklen Stollen. Ein letztes Mal vom Kohlestaub geschwärzte Gesichter, dann Abschied von Kollegen, die Freunde geworden sind. Die Zukunft bedeutet Neuorientierung, in neuen Berufen, neuen Hobbys. "Locke" reist mit seinem besten Freund "Langer" im Wohnmobil nach Frankreich, sie suchen das Meer. Eine atemberaubend schön gefilmte, dokumentarische Erzählung über die Vergangenheit unter Tage und den Beginn vom Rest des Lebens.
Quelle: DOK.fest München 2023 / Ysabel Fantou
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5.35 Uhr. Marco „Langer“ Edelmann fährt zur Schicht, liest unterwegs seinen besten Freund Wolfgang „Locke“ Herrmann auf. Ersterer ist seit 30 Jahren auf Zeche, Letzterer seit 42 Jahren – aus Familientradition in der 3. Generation. „Langer“, der froh ist, dass seine Söhne nicht in den Bergbau gehen, schult später zum Busfahrer um, fährt vor allem Kinder zur Schule, was ihn richtig glücklich macht. „Locke“, der sich immer vor der Leere nach der Zechenschließung gefürchtet hat, bleibt daheim, was ihm und seiner Familie schwerfällt. Andererseits ist ihm bewusst, dass der Bergbau mitverantwortlich ist für den Klimawandel, unter dessen Auswirkungen nun seine Kinder leiden werden.
„Locke sehe ich eigentlich mehr als meine Frau“ gibt Langer zu Protokoll. Beide sind echte Kumpel unter und über Tage, „ein Herz und eine Seele“ mit automatischen Arbeitsabläufen „wie ein eingespieltes Ehepaar“. Als Locke daheim die Decke auf den Kopf fällt, nimmt Langer ihn in seinem Wohnmobil mit an die französische Atlantikküste.
Aus Familientradition ist auch die Transfrau Martina Klientzki eingefahren – in ebenfalls 3. Generation. Nach ihrem Outing hat sie als einzige Frau im deutschen Steinkohlebergbau unter Tage malocht, was zu Beginn etwa in der Kaue „unter vierhundert Kerlen“ nicht einfach war: „Im falschen Körper geboren war ich immer schon eine Frau, sah nur aus wie ein Mann.“ Das ist bis auf die tiefe Stimme nach mehreren Operationen 2015 inzwischen anders. Martina arbeitet nach der Schließung Ibbenbürens weiter unter Tage – in der Leitstelle eines hessischen Salzbergwerks unweit von Fulda.
Kirishanthan „Kiri“ Nadarajah ist vor 21 Jahren als Jugendlicher vor dem Bürgerkrieg in Sri Lanka nach Ibbenbüren geflohen und hat schnell Anschluss auf Zeche gefunden: die Kumpel haben ihm die deutsche Sprache und Kultur nahegebracht. Dennoch lebt der Lokführer in seinem Siedlungs-Eigenheim mit seiner tamilischen Familie heimische Traditionen weiter. Später wird er sich als Triebfahrzeugführer bei der Deutschen Bahn bewerben und Kinder in der Tamilschule Mettlingen unterrichten – und dem eigenen Nachwuchs endlich auch seine Heimat zeigen.
Thomas Hagedorn, der als ewiger Junggeselle noch bei seiner Mutter lebt, fürchtet die letzte Grubenfahrt: Er wird die flotten Sprüche der Kollegen ebenso vermissen wie die eingeschworene, da unter Tage aufeinander angewiesene Gemeinschaft. Er will sich mehr auf sein Hobby Kochen konzentrieren – und immer wieder vor Ort den „Rückbau“ der Zechenanlagen verfolgen. Ganz ins Bergfreie ist er dann aber nicht gefallen: Zusammen mit seinem Kollegen Frank kümmert er sich um die Bergmannskleidung der Besuchergruppen im Museum, das zum Zeitpunkt der Dreharbeiten noch in der in der Turbinenhalle des ehemaligen 100-MW-Kraftwerks untergebracht war, derzeit aber geschlossen ist.
„Wir waren Kumpel“, vor allem in Ibbenbüren, aber auch in Hamm, Essen, Capelle (Nordkirchen), Fulda und Umgebung sowie in Nord-Frankreich gedreht, ist ein hybrider Dokumentarfilm, der Beobachtung und szenische Arrangements miteinander verzahnt. Im Mittelpunkt steht die schrittweise Veränderung der Rollenbilder in der Selbstwahrnehmung der Bergleute unmittelbar vor und nach der Zechenschließung.
Das Regieduo aus Christian Johannes Koch (geboren 1986 in Luzern) und Jonas Matauschek (geboren 1987 in Dresden) vereint in der ersten gemeinsamen Arbeit Einflüsse und Arbeitsweisen des dokumentarischen Beobachtens mit stilprägenden Mitteln des fiktionalen Erzählens. Beide kennen sich seit ihrem Fotografie-Studium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig, nach dem sie unterschiedliche Ausbildungswege im Bereich Film eingeschlagen haben.
Pitt Herrmann