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Der Philosoph Otto Weininger erregt Ende des 19. Jahrhunderts großes Aufsehen, als er Thesen über den Zusammenhang zwischen "Geschlecht und Charakter" - so auch der Titel des entsprechenden Werks - aufstellt. Der Spielfilm nach einem Theaterstück von Joshua Sobol porträtiert Weininger in der letzten Nacht seines Lebens: Jüdischer Herkunft, doch zum Protestantismus konvertiert und immer mehr zum Antisemiten geworden, lässt Weininger sein Leben Revue passieren, das von erotischen Obsessionen und heftigem Selbsthass geprägt war. Am 4. Oktober 1903 erschießt er sich im Alter von nur 23 Jahren in Beethovens Sterbehaus in Wien.
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Paulus Manker, einer der profiliertesten österreichischen Filmregisseure, ist in seinem zusammen mit dem Volkstheater Wien gedrehten Streifen, der mit dem Selbstmord in besagtem Sterbezimmer beginnt, selbst in der Titelrolle des Otto Weininger zu sehen – beachtlich. Der zum Protestantismus konvertierte, antisemitische Jude, erklärter Sigmund Freud-Gegner und Neu-Kantianer, hat mit „Geschlecht und Charakter“ die Minderwertigkeit sowohl der Menschen jüdischen Glaubens und Anhänger des Herzl-Zionismus als auch des weiblichen Geschlechts insgesamt wissenschaftlich zu belegen versucht – unter philosophischen, psychologischen und physiologischen Aspekten. Joshua Sobols Theaterstück „The Soul of a Jew“ erzählt in Rückblenden Otto Weiningers Leben, von seinem Selbsthass, seinen Selbstmordabsichten, seiner verkappten Homosexualität, seiner Genialität – und seinem Irrsinn.
Paulus Manker geht noch einen Schritt weiter, indem er die fatale Wirkung der Schriften Weiningers auf die Ideologie der Nationalsozialisten einbezieht – und damit Otto Weininger selbst, zum Vorläufer der Faschisten gestempelt, natürlich nicht gerecht werden kann. In Mankers „Weiningers Nacht“ geht es freilich auch nicht um die historische Figur etwa in Form eines Biopics, sondern um ein Psychogramm. Er nutzt den engen Bühnenraum mit extremen Kamerapositionen und effektvollen Ganz-Nah-Einstellungen zum inneren Porträt eines neurotischen Wissenschaftlers, der ganz dem frauen- und judenfeindlichen Zeitgeist der Jahrhundertwende nicht nur, aber ganz besonders auch in Wien entspricht.
Zur Musik Hansgeorg Kochs und Zeichnungen Alfred Kubins entsteht so auch eine Art Psychogramm der österreichischen Republik zwischen Walzerklängen und Luegerschem Austrofaschismus. Manker hat keinen Dokumentarfilm gedreht, aber er hat eine Reihe historischer Szenen hineinmontiert. „Weininigers Nacht“ will ein reißerischer Kinofilm sein, der in drastischen, teilweise gar ekelerregenden Bildern den Irrsinn eines jungen, sich unverstanden fühlenden, völlig entwurzelten Menschen offenbart. Und darin an George Taboris „Mein Kampf“ erinnert, etwa in der Szene, in der Weiningers besitzergreifende Mutter Adelheid (liebevoll: Hilde Sochor) ein Huhn rupft, das zuvor beim Schächter ausblutete.
„Zu wissen, dass man geliebt wird ohne lieben zu können“: Weininger versagt, als sich ihm seine Freundin Clara hingibt, um Otto zur Ausreise nach Palästina zu bewegen. Drastische Traumszenen etwa von oralem Sex, in denen Clara die Phallus-Wurst unter schrecklichen Schreien Ottos zerbeißt, wechseln sich ab mit Rückblenden in die Kindheit, die Otto im Matrosenanzug als Muttersöhnchen zeigen. Oder Gespräche mit seinem Freund Berger, die in einen Ausbruch offener Gewalt münden: „Weiningers Nacht“ zeigt die Zerrissenheit von Ottos Charakters – und macht sie noch dazu mit einem Theatertrick deutlich in der Rolle des von Josefin Platt verkörperten Doppelgänger Ottos.
„Weiningers Nacht“ wurde im Februar 1990 im Panorama-Wettbewerb der Berlinale uraufgeführt und kam am 2. März 1990 in die Kinos. Er wurde 1990 mit dem österreichischen Filmpreis „Romy“ in Gold ausgezeichnet.
Pitt Herrmann