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Im Sommer 1959 begab sich der Filmemacher Pier Paolo Pasolini im Auftrag der Zeitschrift "Successo" in seinem Fiat Millecento auf eine Reise, die in der Stadt Ventimiglia nahe der französischen Grenze begann. Von dort fuhr er einmal um den italienischen Stiefel herum bis nach Triest – insgesamt über 3.000 Kilometer. Begleitet wurde er von dem Fotografen Paolo Di Paolo. Die Texte und Bilder, die auf dieser Reise entstanden, gelten längst als kulturgeschichtliche Dokumente aus einem Italien, das es so nicht mehr gibt. Im September und Oktober 2017 begab sich der Regisseur Pepe Danquart mit seinem Kameramann Thomas Schneider und einer kleinen Crew auf Pasolinis Spuren. Sieben Wochen lang folgten sie – ebenfalls in einem Fiat Millecento – seiner Route, um seine Eindrücke nachzuvollziehen und zugleich ein Bild des heutigen Italiens zu zeichnen.
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In „Vor mir der Süden“ begibt sich Pepe Danquart im Sommer 2018 auf Pasolinis Spuren. Die damalige Umrundung unternimmt auch der deutsche Filmemacher im Millecento und blickt auf Umbrüche mit Auswirkungen auf unseren ganzen Kontinent. Pepe Danquart versteht sein Roadmovie „als Hommage an den Dichter, Filmemacher und Poeten Pier Paolo Pasolini“, angereichert mit so hellsichtigen wie empathischen Zitaten aus dessen tagebuchartiger Reportage durch den Sprecher Ulrich Tukur.
Nach einem Prolog am Strand von Jesolo, wo drei ältere Italienerinnen von den heute ausbleibenden deutschen Touristen schwärmen, und Auszügen aus einer Rede Pasolinis vor Studenten über sein kritisches Verhältnis zu Italien und den Italienern, startet der erste Teil („Von der Grenze bis Ostia“) in Ventimiglia, schon immer eine Zwischenstation für Migranten. Vor sechs Jahrzehnten für Süditaliener, die ihr Glück in den Industriezonen Nordeuropas suchten, heute für Flüchtlinge aus Afrika.
In Genua beklagt ein 51-jähriger Hafenarbeiter vor der gespenstischen Kulisse der eingestürzten Autobahnbrücke die Verschlechterung aller Verhältnisse durch die anhaltende Privatisierungspolitik der ständig wechselnden Regierungen. Und ein Fischer prophezeit: „Das Meer wird bald zur Wüste.“ Überall noch verblasste Zeugnisse von Pasolinis Reise an Wänden und in Vitrinen, natürlich auch in Ostia, wo er am 2. November 1975 von homophoben Jugendlichen brutal ermordet wurde.
Im zweiten Teil („Von Sperlonga bis Porto Palo“) geht es über Sabaudia, einer während des italienischen Faschismus erbauten Retortenstadt, nach Neapel. Während Pasolini beim Besuch Capris englische Touristen bestaunte, zeigt Danquart den heutigen Massentourismus, der auch dazu führt, dass Fischer zu Bootsführern in die Blaue Grotte mutiert sind. Die Amalfiküste, schon von Giovanni Boccaccio vor 600 Jahren als die schönste der Welt geschildert, und überhaupt Kalabrien ist heute bis auf die kurze Touristensaison im Sommer weitgehend entvölkert: Wenn das nächste Krankenhaus 50 Kilometer entfernt ist und vor Ort kein Arzt mehr praktiziert, ziehen nach den Jungen auch die Alten fort. Und in den schon von Pasolini gefilmten Wellblechsiedlungen hausen heute afrikanische Bootsflüchtlinge.
Auf Sizilien, im pulsierenden Palermo, das gleiche Bild: Weil die Jungen in den Norden gehen, stirbt das traditionelle Handwerk aus. Ganze Ortschaften sind verwaist. In Syrakus trifft Danquart auf die Schauspielerin Adriana Asti, die Pasolini sechzig Jahre zuvor im Shakespearschen „Wintermärchen“ bewunderte: Sie bestätigt den Eindruck, dass sich am krassen Gefälle zwischen dem armen Süden und dem reichen Norden Italiens nichts geändert hat.
Der Schlussteil („Nach Norden bis Triest“) führt über Pasolinis „Banditendorf“ Cutro und Matera, wo zwei seiner Filme entstanden, nach Tarent. Vor einem Pasolini-Wandbild erinnert sich ein Rockmusiker an die vorausahnenden Warnungen des Regisseurs vor einem Wiederaufflammen des Rassismus. Durch Apulien immer am Ionischen Meer entlang nach Rimini, wie die ganze Adriaküste einst eine Hochburg der deutschen Touristen. Die Gesprächsthemen bleiben die gleichen: Keine Arbeit, Abwanderung, Altersarmut und Immigration.
Über das Bilderbuch-Städtchen Chioggia nach Venedig: Danquart blickt hinter die Kulissen des Massentourismus in einer Stadt, deren Einwohnerzahl sich in den letzten Jahrzehnten halbiert hat, weil die Besucher die Lebenshaltungskosten in unerschwingliche Höhen treiben. Am Strand Lazaretto bei Triest schrieb Pasolini einst: „Hier endet Italien, hier endet der Sommer.“ Auch für Pepe Danquart, der im Neue Visionen Presseheft resümiert: „Die Kritik und Bestandsaufnahme an den Ergebnissen oder Auswüchsen der Moderne, die wir Fortschritt nennen, oder Digitalisierung der Welt oder Globalisierung oder Massentourismus oder ökologischer Kollaps der Welt ist Gegenstand dieses Dokumentarfilms“.
Uraufgeführt am 29. August 2020 beim Fünf Seen Filmfestival in Starnberg, ausgezeichnet beim Los Angeles Documentary Film Festival 2020 als bester internationaler Dokumentarfilm, wird „Vor mir der Süden“ am 18. Juli 2022 von Arte erstausgestrahlt.
Pitt Herrmann