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Drei Feinripp-Unterhosen hängen auf der Wäscheleine – eingerahmt von der großen Unterhose des Vaters und der etwas kleineren des Bruders hängt Maries geradezu winziger Mädchenslip verloren und hoffnungslos dominiert dazwischen. Allein dieses Bild aus dem Film macht die Machtverhältnisse überdeutlich. Heute ist die kleine Marie eine Filmemacherin, gespielt von Margarita Broich, und befindet sich in einer Schaffenskrise. Und irgendwie spiegelt diese ihr gesamtes krisenhaftes Leben, in dem sie gegen die Männerherrschaft ihres Vaters mühsam eine eigene Identität als Mädchen und Frau entwickeln musste.
Die renommierte Dokumentarfilmerin Petra Seeger hat sich in diesem Mischfilm aus dokumentarischen und Spielfilm-Elementen ihr eigenes Leben vorgenommen, das sie mit Originalmaterial, diversen Zeitebenen, viel Situationswitz und emotional bewegender, gedanklich vielschichtiger Selbstreflexion auch zu einem Porträt der von Männern dominierten 1950er und 1960er Jahre verdichtet. Wir gehen auf Zeitreise in Vaters Land, in das Denken einer versunkenen Epoche.
Quelle: 18. Festival des deutschen Films Ludwigshafen am Rhein
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Filmemacherin Marie steckt nach dem Tod ihres Vaters in einer Schaffenskrise. Rückblickend auf ihr Leben ist eines für sie klar: „Lilly darf das nicht passieren, was mir passiert ist.“ Gemeint ist ihre halbwüchsige, sehr behütet aufwachsende Tochter und die Tatsache, dass sie selbst im Alter von zehn Jahren ihre Mutter Marianne verloren hat und an der Seite ihres älteren Bruders Wolfgang hilf- und trostlos den Launen ihres Vaters ausgesetzt war, der wie seine ganze Generation desillusionierter Heimkehrer aus Krieg und Gefangenschaft unfähig zur Trauer war.
Als eines Morgens aus dem Nachlass des Vaters eine Truhe voller Fotos und Filmrollen vor die Tür gestellt wird, zieht sich Marie auf den Dachboden ihres Elternhauses zurück, um das Material zu sichten – und sich ihrer eigenen Vergangenheit zu stellen. Die als Achtjährige im Schoß der in einer Kölner Arbeitersiedlung lebenden Familie beginnt: ihr Vater ist Werksfotograf bei Ford und kann sein Arbeitsgerät, den Fotoapparaten folgt später die erste Filmkamera, an den Wochenenden mit nach Hause nehmen.
Was dieser weidlich nutzt zu privaten Aufnahmen einer glücklichen Familie, die es im Camping-Urlaub in den sonnigen Süden zieht mit Freddy Quinns „Hundert Mann und ein Befehl“ aus dem Autoradio. Doch dann erkrankt die Mutter an Krebs, was Marie zufällig durch eine Lehrerin erfährt, und sie muss sie daheim ersetzen. Was naturgemäß ihre Kräfte übersteigt: „Du sollst tot sein“ ist kein frommer Wunsch. Der dennoch erfüllt wird, weshalb sich Marie ein Leben lang Vorwürfe macht.
„Das ist nichts für Mädchen, Mädchen gehören vor die Kamera“ entscheidet der Vater. Lässt Tochter Marie vor seinen Objektiven posieren und ansonsten die Hausarbeiten erledigen, während er Sohn Wolfgang in die Kunst des Fotografierens einführt, obwohl der sein Interesse zur vorspielt. Als Marie immer stärker opponiert, wird sie kurzzeitig bei den Großeltern auf dem Land irgendwo im Süden der Adenauer-Republik, in der die Rollenverteilung zwischen Mann und Frau klar geregelt ist, geparkt und schließlich in das Internat einer Klosterschule gesteckt.
Inzwischen zu einer jungen Frau gereift, die sich weder von Nonnen noch vom Vater ein X für ein U vormachen lässt („Der Gott sieht alles, auch unter der Bettdecke“), genießt Marie die politisch aufgeheizte Atmosphäre der Siebziger Jahre. Ihr Bruder hat die großelterlichen Räume in eine Wohngemeinschaft umfunktioniert, wobei den vornehmlich weiblichen Bewohnern promiskuitiver Sex wichtiger ist als dröge Schulungen maoistischer Kommunisten. Was sie nicht daran hindert, an der Seite Rudi Dutschkes in Berlin zu demonstrieren. Für Marie ein Erlebnis, dass ihr weiteres Leben grundlegend verändert…
„Vatersland“, gewidmet ihrem am 22. Januar 2020 verstorbenen Gatten, dem Produzenten Joachim von Mengershausen, ist nach Petra Seegers preisgekröntem Dokumentarfilm „Auf der Suche nach dem Gedächtnis“ über Nobelpreisträger Eric Kandel ihr erster Spielfilm. Großes Erinnerungskino sehr persönlicher Art paart sich mit einem genuin weiblichen Blick auf die reaktionäre Nachkriegszeit Westdeutschlands. Ein Biopic der außergewöhnlichen Art: Alle im Film verwendeten Familienfotos und 16mm-Filmaufnahmen kommen aus dem Privatarchiv der Regisseurin.
Petra Seeger im W-film-Presseheft: „Mir war daran gelegen, einen Film zu drehen, der möglichst authentisch den Gefühlen, Erlebnissen und schmerzhaften Momenten meiner Kindheit Ausdruck verleiht. Es ging um nichts Geringeres, als sich wieder in dorthin zurückzubegeben, sich zu erinnern, hinabzusteigen um Schätze, Verborgenes und Schmerzhaftes ans Tageslicht zu bringen und diesen vereinzelten Erinnerungen eine künstlerische Form zu geben; aus den einzelnen Fragmenten einen Fluss zu kreieren, der zur filmischen Erzählung wird.“
Pitt Herrmann