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"Die Voraussetzung zur Eignung ist die physische und psychische Gesundheit." Ein Nebensatz für manche verbannt viele Andere ins Abseits. Auch Yulia und Lucy mussten auf ihrem Weg auf die Bühne unzählige Hürden überwinden. Schauspielschulen und Ensembles schieben sich gegenseitig die Verantwortung für Veränderungen zu. Doch selbst wenn Menschen mit Behinderung eine Chance bekommen, stehen die Häuser oft vor großen Herausforderungen: Jahrhundertealte Strukturen müssen infrage gestellt werden, Ausbilder*innen neu dazulernen. Der Film von Kim Münster und Sebastian Bergfeld erzählt spielerisch-heiter von einer Theaterszene im Wandel und lässt gleichzeitig deutlich werden, dass die Bühne noch weit davon entfernt ist, ein echter Spiegel der Gesellschaft zu sein.
Quelle: DOK.fest München 2023 / Anne Thomé
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„Ich möchte schauspielern“: Diesen Satz hat die Münchnerin Lucy Wilke ein Jahr lang täglich in ihr Tagebuch geschrieben, bevor sie sich traute, in der Freien Szene der Isar-Metropole die Bretter, die ihr nicht nur sprichwörtlich die Welt bedeuten, zu befahren. Lucy hat Spinale Muskelatrophie und ist auf einen Rollstuhl angewiesen, hat aber schon in frühester Kindheit Theaterluft geschnuppert. Sie wuchs mit ihren Eltern unweit es Münchner Theaterzelts „Das Schloss“ in einer Wohnwagensiedlung unter Künstlern auf, ihr Vater arbeitete als Bühnenbauer.
Zwei so talentierte wie entschlossene Schauspielerinnen mit Behinderung stehen im Mittelpunkt der Low-Budget-Dokumentation „Spielen oder nicht spielen“, an der Sebastian Bergfeld und Kim Münster vier Jahre gearbeitet haben. Was auch mit der Finanzierung zu tun hat: Weil sich weder Fernsehanstalten noch VoD-Plattformen für den Stoff interessierten, musste der Film über Crowdfunding finanziert werden. Obwohl nach der Uraufführung mit Real Fiction ein engagierter Verleih gefunden wurde, fanden sich zum Kinostart noch nicht einmal zehn Arthouse-Kinos bundesweit bereit, „Spielen oder nicht spielen“ im Rahmen einer Promotions-Tour mit dem Regie-Team und Gästen zumeist nur an einem Tag zu zeigen.
Was nur beschämend genannt werden kann, für eine sich zunehmend kommerziell verstehende Branche, aber noch mehr für die Öffentlich-Rechtlichen. Nicht minder beschämend die Tatsache, dass es unter 5.000 Schauspielern, die fest an subventionierten Stadt- und Staatstheatern engagiert sind, nur 15 Akteure mit einer Behinderung gibt. Woran das liegt, macht der Film deutlich: die Schauspielschulen verweigern sich mit dem Argument, die Theater würden nur Absolventen ohne Behinderung übernehmen. Was Letztere nicht nur vehement bestreiten, sie teilen sich inzwischen sogar die wenigen vorhandenen Darsteller mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen.
In frappanter Offenheit sprechen Yulia Yáñez Schmidt und die inzwischen fest zum Ensemble der Münchner Kammerspiele gehörende Lucy Wilke mit zweitem Standbein als Sängerin der Band „Blind und Lame“ über ihre Probleme im höchst intensiven Theateralltag. Zumal zahlreiche Bühnen, gerade wenn sie, wie das Münchner Jugendstil-Juwel, unter Denkmalschutz stehen, gar nicht auf Barrierefreiheit eingestellt sind. Aber auch Regisseure, Ausstatter und die darstellenden Kollegen müssen erst lernen, sich auf neue Herausforderungen einzustellen. Das beginnt bereits bei Stückauswahl und Spielplan-Disposition, setzt sich beim Bühnenbau und beim Probenablauf fort und ist am Premierenabend noch längst nicht beendet.
„Spielen oder nicht spielen“ thematisiert dabei auch ganz grundsätzliche Fragen. Sind Sonderformen wie die private inklusive Berliner Bühne Ramba Zamba in der Prenzlberger Kulturbrauerei oder das Wuppertaler Studio überhaupt sinnvoll auf dem Weg der sich so woke gebenden deutschen Theaterlandschaft, dem eigenen Anspruch, Spiegelbild der Gesellschaft zu sein, nicht nur im Spielplan, sondern auch im Ensemble zu entsprechen? Den Filmemachern Kim Münster und dem auch als Pädagoge mit dem Fokus auf Menschen mit Behinderung arbeitenden Sebastian Bergfeld ist zu wünschen, dass ihre kritische Bestandaufnahme Reaktionen nicht nur in den Theaterhäusern der Republik hervorruft.
Pitt Herrmann