Inhalt
Christine Klüver, leitende Hebamme einer Universitätsklinik, hat einen hohen Orden erhalten. Auf der Heimfahrt im Zug erinnert sie sich an eine bedrückende Kindheit und eine gescheiterte Ehe. Sie begegnet im Speisewagen Claudia, einer jungen Frau, die sich später als ihre vor fast 30 Jahren beim ungeliebten Mann zurückgelassene Tochter zu erkennen gibt und sie anklagt. Die Spannung zwischen Mutter und Tochter eskaliert, als sich Claudia in Christines jungen Freund Ludwig verliebt. Die Auseinandersetzung mündet bei Christine in eine Selbstanalyse – ohne Verklärung und Schutzlügen –, aus der sie mit neuen Träumen hervorgeht.
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Christine Klüver ist knapp fünfzig Jahre alt. Als Chefhebamme in einer Universitätsklinik irgendwo in der DDR-Provinz (gedreht wurde u.a. in Greifswald, Stralsund, auf Rügen und im Braunkohle-Tagebaugebiet vor den Toren Leipzigs) hat sie 6.400 Erdenbürger auf die Welt gebracht. Was ihr nun in der Hauptstadt den Orden „Held der Arbeit“ - und später daheim viele anerkennende Worte ihres Klinikchefs Professor Kühne eingebracht hat. Christine erinnert sich an eine freudlose Kindheit mit vielen Zwängen und an eine nicht minder unglückliche Ehe, aus der ihr zu früh geborener, heute fast erwachsener, taubstummer Sohn Gunnar hervorgegangen ist. Der seit der frühen Trennung von ihrem Gatten nun immer an ihrer Seite ist.
Im Speisewagen des Zuges sind noch zahllose Tische unbesetzt, dennoch fragt eine junge, attraktive Frau Christine, ob sie sich zu ihr setzen darf. Beide sind sich sogleich sympathisch, bald wird die zweite Flasche entkorkt. Als Christine ihr Ziel erreicht hat und am Bahnhof von Freunden und Kollegen mit großem Hallo empfangen wird, ist Claudia (bezaubert in ihrer ersten großen Filmrolle mit frischer Natürlichkeit und einnehmendem Charme: Dagmar Manzel) wie selbstverständlich an ihrer Seite.
Auf dem Fest zu ihren Ehren macht die so emanzipiert erscheinende Genossin in ihrer selbstbewussten, frappant offenen Dankesrede keinen Hehl aus ihrer problematischen Biographie, erzählt freimütig von ihren Träumen und lässt auch ihr Jungmädchenidol James Dean nicht unerwähnt. Sie teilt mit allen Anwesenden ihr spätes Glück an der Seite des um einiges jüngeren, der Gebärdensprache mächtigen Partners Ludwig, einem Orchestermusiker.
Nachdem Claudia in Christine ihre Mutter erkannt hat, die sie vor dreißig Jahren beim ungeliebten Mann Emmerich zurückließ, um ihren eigenen Weg zu gehen, macht sie der Gefeierten eine heftige Szene, die durch Gunnars rasches Eingreifen entschärft wird. Schnell entschlossen greift der Sänger der Band zum Mikrophon.
Als der erste Rauch verflogen ist, tauschen sich die beiden Frauen an der Bar (mit Jaecki Schwarz als recht unfreundlichem Keeper) aus. Christine beharrt darauf, dass Emmerich sich wegen einer anderen Frau von ihr getrennt hat. Und Claudia berichtet von einem dreijährigen Aufenthalt im Werkhof, nachdem sie des Diebstahls überführt worden war: dabei habe sie nur ihrer Stiefmutter Inge ein Geschenk machen wollen. „Musik ist für mich wie das halbe Leben“: Am anderen Morgen trägt Claudia ein Kleid Christines, das ihr außerordentlich gut steht. Im übrigen auch in den Augen Ludwigs, der gar nicht mehr von der Seite dieser lebenslustigen jungen Frau weichen will.
Am Ende sehen wir Christine erneut in einem Zugabteil sitzen. Verlässt sie zusammen mit ihrem 18-jährigen taubstummen Sohn Gunnar die Stadt, wie es in der kurzen Inhaltsangabe auf der Homepage der Defa-Stiftung heißt? Habe ich so nicht gesehen. Eine solche Kapitulation dieser „starken Frau“ Christine vor der sich aus der Vergangenheit entwickelnden Gegenwart ergibt aus meiner Sicht auch keinen Sinn.
Heiner Carow fragt in seinem nach dem Tatsachenbericht „Die Hebamme“ von Imma Lüning entstandenen Film nach der Selbstverwirklichung einer Frau im beruflichen Alltag des sozialistischen Deutschland. Er fragt nach dem persönlichen Gewinn und auch dem für die Gesellschaft, setzt diesen aber in dem offenen Schluss seines Films nur vage ins Verhältnis zum persönlich-familiären Verlust seiner Protagonistin. Zumal bei der Trennung zwischen Christine und Emmerich nicht nur das gewandelte Rollenbild der berufstätigen Frau im Sozialismus eine Rolle spielte, sondern auch eine zweite Frau namens Inge.
Heiner Carow verhandelt in seinem ersten Film nach siebenjähriger Zwangspause, in der mit „Paule Panke“ und der Fühmann-Adaption „Simplicius Simplicissimus“ gleich zwei Defa-Projekte aus politischen Gründen scheiterten, ein bei den Partei-Offiziellen allzu brisantes Thema, sodass „So viele Träume“ nach der Premiere rasch wieder aus den DDR-Lichtspielhäusern verschwand. Auch die Presse ließ kein gutes Haar an dem Film, in dem ursprünglich Silvester Groth für die Rolle des Ludwig vorgesehen gewesen war, der aber noch vor Drehbeginn in den Westen 'rübergemacht hatte.
So zog die viel gelesene „Kino-Eule“ R. Holland-Moritz im „Eulenspiegel“ (41/1986) mit „hanebüchend trivial“ und „peinlich naturalistische Alptraumsequenzen“ ordentlich vom Leder. Sowohl inhaltliches als auch ästhetisches Lob kam dagegen von der falschen Seite, von Heinz Kersten im West-Berliner „Tagesspiegel“ (23.11.1986), der die komplizierte Erzählstruktur aus Rückblenden, Träumen und Monologen ebenso lobte wie die stimmige Psychologie der Figuren: Carow verlange von seinem Publikum mehr als nur die reine Konsumentenhaltung.
Pitt Herrmann