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Nach den ostpreußischen Landschaften in "Kalte Heimat", "Die Gilge" oder "Kurische Nehrung" reist Volker Koepp für seinen Dokumentarfilm "Memelland" an das litauische Ufer des großen östlichen Stroms. Von den Bewohnern wird dieser Landstrich, in dem seit jeher Deutsche und Litauer leben, auch "Klein Litauen" genannt. Neben eindrucksvollen und atmosphärischen Naturaufnahmen vermitteln vor allem die Erzählungen der Einheimischen ein Gefühl für das Leben in dieser landschaftlich einzigartigen, historisch bedeutsamen Grenzregion. Sie erzählen vom Ende des Krieges, von der Zeit, als Litauen zur Sowjetunion gehörte – und von der nicht immer rosigen Gegenwart.
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Thomas Plenerts immer wieder auch subjektive Kamera streift über ein weites, bis zum Horizont flaches Land auf der litauischen Seite der Memel, hier Nemunas genannt. An dessen Ufer Fischer ihre Netze flicken und Pferde auf der Weide grasen. Diese scheinbare Idylle aber ist eine Grenzregion, deren Menschen mit Kriegen und Teilungen leben mussten und auch weiterhin leben müssen. Und die dennoch, wie es schon der Barockdichter Simon Dach und in jüngerer Zeit insbesondere der Schriftsteller Hermann Sudermann und der Dichter Johannes Bobrowski beschrieben haben, ein besonders enges Verhältnis zur Landschaft und zur Natur am Strom haben.
„Wir haben nie geheiratet, wir waren zu arm und jetzt sind wir zu alt“: Edith, Erna und Berta gehören zu den wenigen Deutschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg im Memelland geblieben sind. Wenn auch nicht ganz freiwillig: Eine Ausreise war zunächst nicht möglich, da die Papiere der Eltern gegen Kriegsende verlorengegangen waren. Nach so langer Zeit – und nach der Verabschiedung aller anderen deutschen Familien aus Ventė – denken sie nicht mehr daran, ihre vertraute Heimat gegen eine unsichere Zukunft anderswo zu verlassen.
Auf dem Land leben vor allem alte Leute: „Es ist wie bei euch in Deutschland“, sagt Berta, „die jungen Leute aus den Dörfern ziehen davon.“ Doch es gibt auch ein Gegenbeispiel: Ceslovas Zemaiciai, ein junger Werbefachmann aus Vilnius, hat mit seiner Frau Asta in Šturmai am Ostufer des Kurischen Haffs ein Hotel gebaut. Mit Ziegelsteinen von abgerissenen alten deutschen Häusern aus dem Kaliningrader Gebiet jenseits der russischen Grenze und 100 Jahre alten Dachziegeln einer Königsberger Molkerei und Käserei. Er fühlt sich eng mit der einst „Preußisch-Litauen“ und nun „Klein-Litauen“ genannten Landschaft und ihrer wechselvollen Geschichte verbunden, die er zufällig über Freunde kennengelernt hat. Und träumt davon, eines Tages Vilnius für immer den Rücken zu kehren und ganz in dem neuen Hotel an der Memel zu leben.
Šturmai liegt an der Straße zum Windenburger Eck, einem beliebten Reiseziel gerade deutscher Touristen. Hier hat der Ornithologe Tadas Ivanauskas 1929 eine Vogelwarte errichtet, die seit drei Jahrzehnten vom heute 80-jährigen Leonas Jezershas geleitet wird. Der aus Kaunas stammende Nachbar der drei Schwestern Schadagies beringt seit 1974 Singvögel, er schätzt die Zahl auf inzwischen 800.000 Exemplare. Leonas hat Herrscher kommen und gehen sehen, ihn erschüttert nichts mehr: „Meine Nachtigallen singen für alle.“
Apropos singen. Simon Dachs volkstümliches Lied „Ännchen von Tharau“ kann die junge BWL-Studentin Viktorija Savichaitė aus Vilnius immerhin summen. Sie hat sich in die vom deutschen Gutsbesitzer Hugo Scheu beschriebene Wasser- und Heidelandschaft verliebt und möchte hier später in der Touristenbranche tätig sein. Scheu, seinerzeit Landrat in Heydekrug, dem heutigen Šilutė, gilt als litauischer Grimm: Er schieb bisher nur mündlich überlieferte Märchen und Sagen auf und veröffentlichte sie. Das Museum in Šilutė, wo der in Memel geborene Scheu 1947 starb, erinnert an den Deutschen. Es wird von Roza Siksnienė geleitet, die als Tochter von 1948 nach Sibirien deportierten Memeldeutschen geboren wurde und 1956 in die ihr unbekannte „Heimat“ zurückkehren durfte. Die in Vilnius ausgebildete Historikerin hat zuvor als Geschichtslehrerin sowie im Uhrenmuseum von Klaipėda (Memel) gearbeitet und erzählt, dass sogar einige ausgewanderte Deutsche wieder zurückgekommen sind.
„Ich bin ein Optimist“ bekundet der 80-jährige Kazimieras Banyi, den Koepp in Rusnė (deutsch: Ruß) sozusagen vom Fahrrad holt. Denn er kennt den Fischer Erdman Jogenaitis, den der Dokumentarist vor 36 Jahren in seinem Defa-Kurzfilm „Grüße aus Sarmatien für den Dichter Johannes Bobrowski“ porträtiert hatte. Banyi, dessen Vorfahren aus Ostpreußen stammen, war sechs Jahre in Workuta, einem der größten Zwangsarbeiterlager des Gulag, verbannt, bevor er 1959 an die Memel kam. Wo sich der Naturliebhaber inzwischen heimisch fühlt.
„Memelland“ ist einerseits eine persönliche Wiederbegegnung mit Volker Koepps Lieblingsregion Sarmatien. Der mit „Wiederkehr“ zehn Jahre später eine weitere folgen sollte, in der die Begegnung mit Leonas Jezershas aufgegriffen worden ist. Andererseits bleibt der gebürtige Stettiner des Jahrgangs 1944 bei seiner Linie, den Menschen zuzuhören und sich einem eigenen Kommentar weitgehend zu enthalten.
Pitt Herrmann