Inhalt
Die Wissenschaftlerin Alice arbeitet in einer Firma, die auf die Züchtung neuer Pflanzenarten mittels Genmanipulation spezialisiert ist. Eines Tages gelingt ihr ein besonderer Coup: Die Züchtung einer purpurroten Blume, die nicht nur wunderschön ist, sondern auch zu therapeutischen Zwecken eingesetzt werden kann – bei idealer Temperatur und Ernährung sowie regelmäßigem Zuspruch macht die Blume ihren Besitzer glücklich. Entgegen den Vorschriften nimmt Alice eine "ihrer" Blumen mit nach Hause. Die allein erziehende Mutter will damit ihren Sohn Joe glücklich machen. Mutter und Sohn geben der Pflanze den Namen "Little Joe". Aber schon bald keimt in Alice das ungute Gefühl, dass ihre Neuzüchtung nicht so harmlos ist, wie geglaubt.
Kommentare
Sie haben diesen Film gesehen? Dann freuen wir uns auf Ihren Beitrag!
Jetzt anmelden oder registrieren und Kommentar schreiben.
Tag und Nacht wachen Kameras über die Entwicklung verschiedener Designer-Pflanzen aus der Retorte in dem Hochsicherheits-Gewächshaus des englischen Unternehmens, mit denen sich der Laborchef Karl an der „Flower Fair“ beteiligen will, einer weltweit beachteten Fachmesse, die „sogar Exporte in die EU“ voranbringt: Zum Zeitpunkt der Dreharbeiten im Herbst 2018 ging die österreichische Filmemacherin Jessica Hausner offenbar davon aus, dass zur Uraufführung im Mai 2019 in Cannes Großbritanniens Austritt aus der Europäischen Union vollzogen worden ist.
„Was die Pflanzen wirklich brauchen, ist Liebe“ weiht Alice ihren Sohn ein, dem sie heimlich ein Exemplar der nun „Little Joe“ genannten Blume mit nach Hause nimmt. Was streng verboten ist, da weder die Versuchsreihen im Labor noch die Auswertung der Erfahrungen mit Probanden abgeschlossen sind. Im Gegensatz zu Ric, der die gefilmten Gespräche mit Letzteren auswertet, ist Alice zunehmend besorgt über Nebenwirkungen der euphorisierenden Wirkung des Blütenstaubs: Die Mutter des jungen Mädchens Ella etwa spricht von einer bisher nie gekannten Launenhaftigkeit der Tochter. Verändern die Blütenpollen die Persönlichkeit der Probanden?
Zu einem ersten ernsten Zwischenfall im Unternehmen kommt es, als Bello, der stets friedliche und von allen geliebte Vierbeiner von Bella, der erfahrensten Pflanzenzüchterin des Unternehmens, in einem unbeobachteten Moment durch die aufwändig gesicherte Türschleuse zum klinisch-sterilen Treibhaus schlüpft. Das Menschen nach gründlicher Desinfektion nur mit Mundschutz betreten dürfen. Als Chris das Tier einfangen will, kommen beide mit Blütenpollen in Berührung. Was zunächst bei Bello Wirkung zeigt: der Vierbeiner wird störrisch und anderntags derartig aggressiv, dass Bella ihn einschläfern lässt. Die begleitende Blutuntersuchung des Tierarztes ergibt allerdings keine Anhaltspunkte für eine ungewöhnliche Reaktion.
Dennoch zeigt sich nicht nur Bella alarmiert. Alice hat „Little Joe“ auftragsgemäß steril designt und Karls beste Züchterin vermutet, dass die Blume über ihre Pollen versucht, einen Ausweg zur eigenen – natürlichen – Vermehrung zu finden. Eine steile These, welche die Wissenschaftler ins Reich der Phantasie einer Frau verbannen, die zeitweise so stark unter dem Burn-Out-Syndrom litt, dass sie einen Selbstmordversuch unternahm. Aber auch Alice bemerkt Veränderungen im Verhalten ihres Sohnes, der ihr immer häufiger widerspricht, mit Selma eine Klassenkameradin als beste Freundin aus dem Hut zaubert, die ihn sogar schon einmal zu seinem Vater aufs Land begleitet hat. Und der er nun, natürlich heimlich, mit Mutters entwendeter Keycode-Karte Zutritt zum Treibhaus verschafft – ohne Mundschutz. Plötzlich will Joe partout zu dem bisher von ihm verschmähten Vater Ivan ziehen, auch wenn das einen erheblich längeren Schulweg bedeutet.
Nach einem unerklärten technischen Problem mit der Treibhaustür, Bella musste sich den Rückweg durch ein Oberlichtfenster bahnen, hat die Züchterin vergeblich versucht, die Versuchsreihe von „Little Joe“ durch Manipulation der Heizung zu torpedieren. Nun wird Alice dabei erwischt, ihrer Skepsis durch Sabotage Nachdruck zu verleihen – und Chris muss körperliche Gewalt anwenden. Es gelingt ihm, alles unter der Decke zu halten: auf der Flower Fair wird „Little Joe“ mit dem European Herb and Health Award ausgezeichnet. Glänzende Geschäftsabschlüsse sorgen für Schampus-Laune bei Karl und dem Team Wooday...
Erinnert sich noch jemand an Roger Cormans B-Picture „Little Shop of Horrors“ aus den frühen 1960er Jahren? So schwungvoll-lustig wie beim horriblen Blumenladen-Kaktus geht’s im gekünstelten Science-Fiction-Kosmos von Geraldine Bajard und Jessica Hausner nicht zu. Was nicht zuletzt auch an der Tonspur liegt: enervierende Technik-Geräusche wechseln ab mit auf Dauer nicht minder unerträglichen arabeskenhaften fernöstlichen Melodienfolgen des Minimalisten Teiji Ito.
Martin Gschlachts Kamera bewegt sich in hochartifiziellen Interieurs, bis auf ein traditionell eingerichtetes Pub und Ivans Naturstein-Haus im Outback wird die Außenwelt ausgeblendet. Alices cleane Designerwohnung ist in die gleichen hellen Pastelltöne getaucht wie die Planthouse-Sozialräume, die Dienstkleidung und selbst ihre privaten Klamotten und ihr orangegetöntes Haar fügen sich farblich nahtlos ein. Um dann umso mehr in Kontrast zu treten mit den knallrot ins Auge stechenden Wänden des Behandlungszimmers ihrer Psychotherapeutin. „Little Joe“ spielt in einer unbestimmten Nah-Zeit, von Dystopie kann eigentlich nicht die Rede sein. Hausners fünfter Spielfilm kommt der beklemmenden Atmosphäre ihres Thrillers „Hotel“ sehr nahe. Wieder sind ihre Protagonisten getrieben in immer neue Einbildungen, die stets das Schlimmste vermuten lassen. Nur ist diesmal der Horror greifbarer, konkretisiert an einem aus der Kontrolle geratenen Einsatz der Gentechnik. Free-TV-Premiere ist am 11. Mai 2022 auf Arte.
Pitt Herrmann