Inhalt
Der gescheiterte Schriftsteller Marcel Marx ist von Paris in die französische Hafenstadt Le Havre gezogen. Seinen Lebensunterhalt bestreitet er mehr schlecht als recht als Schuhputzer. Dennoch ist Marx zufrieden und lebt in einem kleinen Haus mit Ehefrau Arletty und Hündin Laïka. Eines Tages entdeckt er zufällig den afrikanischen Flüchtlingsjungen Idrissa, der illegal von Gabun nach Frankreich eingereist ist und versucht, sich in einem Container zu verstecken. Marx nimmt Idrissa, dem bereits Kommissar Monet auf der Spur ist, bei sich auf. Derweil erfährt Arletty, dass sie Krebs hat, hält ihr Wissen um die Krankheit aber geheim. Marx will dem Jungen die Überfahrt nach England zu dessen Mutter ermöglichen und bekommt Unterstützung aus der Nachbarschaft sowie - zu seiner Überraschung - von Kommissar Monet. Wie durch ein Wunder erholt sich schließlich seine Frau nach einem Krankenhausaufenthalt von ihrem Leiden.
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Marcel, der die Tage und manche Abende als Schuhputzer verbringt, und Arletty, die mit dem Wenigen, was ihr Gatte nach Hause bringt, über die Runden kommt, sind zusammen mit Hündin Laika im Fischerviertel von Le Havre, wo Fraternité noch täglich gelebt wird, heimisch geworden: Bei Claire in der Bar „La Moderne“, die den leicht morbiden Charme der 1950er Jahre ausstrahlt wie alles, was Szenenbildner Wouter Zoon vor Timo Salminens Kamera gerückt hat, geht ein Aperitif immer aufs Haus, Yvette drückt stets ein Auge zu, wenn Marcel 'mal wieder das Baguette nicht bezahlt und Jean-Pierre (Francois Monnié), der Gemüsehändler, lässt nur aus Gewohnheit die Rollläden herunter, wenn Marcel erneut anschreiben lassen will.
Das Leben in der Hafenstadt ist ein langsamer Fluss, auch wenn gleich in der Eingangsszene ein Kunde von Marcel erschossen wird – glücklicherweise, nachdem er schon bezahlt hat. Oder Marcel von einem Schuhgeschäftsinhaber als „Terrorist“ bezeichnet und vom lukrativen Standort verjagt wird. Marcel und seinen jungen Freund Chang kann so leicht nichts aus der Fassung bringen, aber berührt sind beide schon, wenn sie in der Bar via Fernsehen mitbekommen, wie brutal der französische Staat gegen Immigranten und ihre Wohnlager vorgeht: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit? Ist lange her.
Arletty, schon immer reichlich verhärmt bei aller klammheimlichen Warmherzigkeit, ist nicht gut zurecht, muss sich immer wieder hinlegen, schaut ihrem Gatten stumm beim Abendbrot zu. Und dennoch ist Marcel überrascht, als sie ihn bittet, einen Krankenwagen zu rufen. Nachbarin Yvette fährt sie in die Klinik, doch Doktor Becker schickt ihn mit beruhigenden Worten wieder nach Hause. Dabei scheint für alle klar, dass die Diagnose nur niederschmetternd ausfallen kann.
In dieser Zeit des Wartens, der Ungewissheit, wird Marcel zufällig Zeuge, wie die Polizei im Hafen einen nach London bestimmten Schiffscontainer mit afrikanischen Flüchtlingen aus Gabun öffnet, die es nun nur bis in die Normandie auf die falsche Seite des „Kanals“ geschafft haben. Und er wird gewahr, dass mit Idrissa ein kleiner Junge entkommen kann. Der sich zunächst unterhalb der Kaimauer versteckt, wo ihm Marcel heimlich Nahrungsmittel zukommen lässt. Immer unter Beobachtung des misstrauischen Kriminalkommissars Monet gelingt es Marcel sogar, Idrissa in den eigenen vier Wänden zu beherbergen. Ein Katz-und-Maus-Spiel beginnt unter Beteiligung des halben Stadtviertels: Alle unterstützen Marcel und den intelligenten Jungen, auch, als es darum geht, die exorbitante Summe von 5000 Euro für eine heimliche Überfahrt nach London, wo dessen Mutter lebt, aufzubringen...
„Le Havre“ ist nicht nur, wie der Regisseur zu seinem ersten Streifen nach fünfjähriger Auszeit meint, ein „unrealistischer Film“, er ist ein Märchen. Das sich, schon was die Namen der Protagonisten betrifft, auf Marcel Carnés „Kinder des Olymp“ bezieht - und darauf, dass Carné 1938 hier „Hafen im Nebel“ gedreht hat. Und weil Aki Kaurismäki immer schon die Version bevorzugt hat, „in der Rotkäppchen den bösen Wolf frisst“, geht dieses Märchen nach 93 Minuten überraschend gut aus – und das gleich in mehrfacher Hinsicht.
Es macht das Fan-Publikum des wechselweise in Finnland und Portugal lebenden Kultregisseurs, der seinem gekünstelten und für alle Nicht-Kenner gewöhnungsbedürftigen Stil auch in „Le Havre“ treu geblieben ist, mit einer Stadt bekannt, die als das Memphis/Tennessee von Frankreich gilt, einer Stadt des Blues, des Soul und des Rock'n Roll. Und auch wenn Roberto Piazza alias Little Bob so aussieht und sich so gibt wie eine typische Erfindung des diesmal erstaunlich wenig zur Melancholie neigenden finnischen Filmemachers, so gilt er auch im wahren Leben als der „Elvis“ Le Havres.
Action-Kino ist nicht Aki Kaurismäkis Welt, auch wenn „Le Havre“ mit dem Knalleffekt eines Mordes auf offener Straße beginnt. Es sind die kleinen, oft anrührenden und immer „menschelnden“ Szenen, die seine Filme ausmachen. Etwa wenn die Freundinnen Claire und Ivette am Krankenbett in der Klinik Arletty – ausgerechnet – Franz Kafka vorlesen. Wenn der offenbar gutbürgerlich erzogene Idrissa bei Marcel brav den Abwasch macht – und vom heimlich zugesteckten Geldschein nichts wissen will. Wenn Kommissar Monet ganz unaufgeregt auf fraternisierenden Pfaden wandelt zum Verdruss des Anklägers, der den „Fall“ des Flüchtlingsjungen endlich vom Tisch haben will. Und wenn schließlich bei ein, zwei Gläschen Calvados zwischen Marcel und Monet eine wunderbare Männerfreundschaft ihren Anfang nimmt. „Le Havre“ ist einmal mehr ein Fest für Cineasten, das ihnen bis zur finalen „Casablanca“-Einstellung eine Fülle von Assoziationsmöglichkeiten eröffnet.
Pitt Herrmann