Inhalt
Christian ist neu im Großmarkt. Schweigend taucht er in das unbekannte Universum ein: die langen Gänge, die ewige Ordnung der Warenlager, die surreale Mechanik der Gabelstapler. Bruno, der Kollege aus der Getränkeabteilung, nimmt sich seiner an, zeigt ihm Tricks und Kniffe, wird ein väterlicher Freund. Und dann ist da noch Marion von den Süßwaren, die ihre kleinen Scherze mit Christian treibt. Als er sich in sie verliebt, fiebert der ganze Großmarkt mit. Doch Marion ist verheiratet – nicht sehr glücklich, wie es heißt. Plötzlich ist sie krankgeschrieben. Christian fällt in ein tiefes Loch. So tief, dass sein altes, elendes Leben ihn wieder einzuholen droht.
Mit "In den Gängen" öffnet Thomas Stuber den Blick für die Lebenswelt eines einfachen Angestellten in der ostdeutschen Provinz. In streng kadrierten Bildern entfaltet sich eine Choreografie von Menschen und Dingen, Realität, Sehnsucht und Traum. Alltägliches verwandelt sich in magischen Realismus, der über die zarte Liebesgeschichte hinaus vorsichtig auf das Prinzip Hoffnung verweist.
Quelle: 68. Internationale Filmfestspiele Berlin (Katalog)
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„Wir duzen uns hier alle“: Rudi, so etwas wie der Chef der Abendschicht, der alle Mitarbeiter bei Dienstschluss persönlich mit Handschlag verabschiedet, versorgt Christian, der seinen Job auf dem Bau verloren hat, mit der Grundausstattung: Cutter und vier Kulis in der Kitteltasche. Mit dem erfahrenen Gabelstapler-Fahrer Bruno gibt er dem bescheidenen, ja geradezu schweigsamen Neuen zudem einen Mentor zur Hand, der sich auskennt im Labyrinth schier endloser Gänge des Supermarkt-Warenlagers.
„Ohne Dampf kein Kampf“: Bruno, für die Getränke-Abteilung zuständig, lädt Christian erst 'mal zu einer hier „Fünfzehn“ genannten und eigentlich verbotenen Raucherpause im Schutz raumhoch gestapelter Flaschenpaletten ein. Es ist spät geworden, nur noch wenige Lagerarbeiter füllen die Regale auf. Aus den Lautsprechern erklingt statt der tagsüber wohl unumgänglichen, da konsumfördernden Kommerzmucke klassische Musik wie Johann Sebastian Bachs „Air“: Rudi legt die CD-Scheiben seines guten Geschmacks ein.
Der schmächtige Christian mit den bärbeißigen Bulldoggen-Tatoos auf den Schulterblättern taucht mit großen Kinderaugen in eine fremde Welt ein. Als er versonnen Irina beim Sortieren neu angekommener Waren zuschaut, wird er beinahe von einem Stapler überrollt. „Nicht im Weg stehn, Frischling“ ruft Marion ihm zu. Er sieht die offen-freundliche, ihm gegenüber aber stets leicht ironisch-herausfordernde Kollegin der Süßwarenabteilung in der Mitarbeitercafeteria wieder, wo sie sich vom „Frischling“ einen Cappuccino ausgeben lässt.
„Eine Tratschtasche bist du ja nicht“: der Kaffeeautomat wird bald ihr regelmäßiger Treffpunkt. Behutsam kommen sie sich näher, was der Großmarktfamilie, der Christian nach mit Ach und Krach vor der Berufsgenossenschaft bestandener Staplerfahrprüfung endgültig angehört, nicht verborgen bleibt. Sein väterlicher Freund Bruno fühlt sich veranlasst, ihm zu stecken, dass die geheimnisvolle Marion verheiratet ist, wenn auch ganz offenkundig unglücklich. Christian schenkt seiner bald gar nicht mehr so heimlich Angebeteten dennoch ein Yes-Törtchen samt Miniaturkerze zum Geburtstag. Es stammt aus dem alltäglich frisch befüllten Container für abgelaufene Ware, aus dem sich offiziell niemand bedienen darf, obwohl alle Lebensmittel noch in einwandfreiem Zustand sind. Was sich nicht nur Paletten-Klaus zunutze macht, auch Christian füllt den Kühlschrank seiner tristen Plattenbauwohnung mit dem Abfall der Wohlstandsgesellschaft.
Beim improvisierten, von Rudi traditionell organisierten betriebsinternen Weihnachtsgrillen auf der Laderampe, kommen sich Christian und Marion so nah wie nie zuvor. Doch über Weihnachten ist sie zu Hause bei ihrem Mann – und im Neuen Jahr ist nichts mehr so wie vorher. Marion will keinen Kaffee mehr trinken, weist alle schüchternen Annäherungsversuche Christians brüsk ab. Und der gerät aus dem Gleichgewicht, verbringt die Nächte in der Kneipe und kommt zu spät zur Arbeit. Bruno setzt sich für ihn ein und Rudi gibt ihm noch eine Chance, sonst wäre die Probezeit abrupt zu Ende. Dann kommt Marion nicht mehr zum Dienst, ist offiziell krankgeschrieben. Bruno, der Christian auf seinen Bauernhof einlädt, verrät den wahren Grund: Sie ist von ihrem Mann geschlagen worden. Christian schleicht sich heimlich durch den Garten ins Haus und bemerkt Marion summend-entspannt in der Badewanne – übersät mit blauen Flecken. Doch er wagt nicht, ihr gegenüberzutreten und verschwindet wieder.
Plötzlich taucht Marion wieder im Großmarkt auf, als wäre sie nie weg gewesen. In „Sibirien“, der Tiefkühlabteilung, bedankt sie sich bei Christian für seinen Besuch, den sie sehr wohl bemerkt hat. Doch es bleibt beim zärtlichen Eskimo-Nasenstüber: in der gleichen Nacht hat sich der vereinsamte Bruno aufgehängt. Nach seiner Beerdigung erhält Christian dessen Job – und mit Marion könnte es irgendwie doch noch klappen...
„In den Gängen“, entstanden nach Clemens Meyers gleichnamigen Kurzgeschichte aus seinem Erzählband „Die Nacht, die Lichter“, ist eine feinfühlige, mit 125 Minuten keineswegs zu lange Suche nach dem kleinen Glück. Die allerdings in der ersten halben Stunde sehr betulich beginnt, sodass sich ein an Action-Streifen gewöhntes Publikum erst einstimmen muss. Die vielfach preisgekrönte Arthouse-Produktion, Meyer und Regisseur Thomas Stuber erhielten bereits vor Drehbeginn den Deutschen Drehbuchpreis, erzählt nicht nur die Geschichte einer hauchzarten tragikomischen Liebesbeziehung im Arbeitermilieu.
Sondern auch die Geschichte der Abwicklung der DDR-Wirtschaft nach der Wiedervereinigung und was sie für die Menschen noch Jahrzehnte danach für Folgen hat. Rudi, Bruno und die anderen männlichen Lagerkräfte, die heute auf vergleichsweise filigranen Staplern durch die Gänge des Supermarktlagers flitzen, waren vor der Wende stolze Fernfahrer im Volkseigenen Betrieb. Wenigstens einen Teil der Wärme, der Solidarität untereinander haben sich die Männer mit den gebrochenen Biographien erhalten können, auch wenn es am bitteren Ende für Bruno nicht gereicht hat. Arte strahlt "In den Gängen" als Free.TV-Premiere am 13. November 2020 aus.
Pitt Herrmann