Da habt ihr mein Leben. Marieluise - Kind von Golzow

Deutschland 1996/1997 Dokumentarfilm

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Heinz17herne
Heinz17herne
Dänemark, Sommer 1991. Die erste Auslandsreise nach dem Fall der Mauer geht im roten Lada, noch mit DDR-Kennzeichen, nach Dänemark. Marieluise Seidel geb. Hübner, seit ihrer Golzower Einschulung 1961 im Blickfeld des Defa-Dokumentaristen Winfried Junge, hat ein bewegtes Leben hinter sich. Im Halbleiterwerk Frankfurt an der Oder erlernt sie den ungeliebten Beruf der Chemielaborantin, ist mit dem fünf Jahre älteren Berliner Musikstudenten Wolfgang liiert, heiratet aber zur großen Erleichterung ihrer Mutter Elli einen anderen: Hans-Steffen Seidel. Mit dem vier Jahre älteren, unüberhörbar aus Sachsen stammenden Offizier der Nationalen Volksarmee hat sie zwei Töchter und ist nach der Wende mit ihrem von der Bundeswehr übernommenen Mann nach Köln gezogen. Wo die inzwischen 42-Jährige als Zahnarzthelferin tätig ist, freilich auch kein Traumjob.

Teil 1: 1961 bis 1979. Marieluise ist eines von sechs Kindern eines christlichen Elternhauses, Vater Walter Hübner ist gläubiger evangelischer Kirchgänger, überzeugter Sozialdemokrat und wie seine Gattin Melker in der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG). Weshalb sie wie ihre beste Freundin, die Katholikin Elke, zu den wenigen Konfirmierten in der zehnklassigen Oberschule des kleinen Ortes Golzow im Oderbruch gehört und nur Gast beim Festakt der Jugendweihe ist. Das wird sich später bei Marieluises jüngeren Geschwistern ändern, nachdem Mutter Elli daheim ein Machtwort gesprochen hat. Dass Marieluise mit auf Jugendweihe-Fahrt nach Weimar darf, verdankt sie allein den Defa-Filmemachern und ihrer Doku „Ich sprach mit einem Mädchen“ (1975) im Rahmen des Langzeitprojektes „Kinder von Golzow“.

Sportfest zum Ende des achten Schuljahres. Die Jungen legen sich mächtig ins Zeug, um den Mädchen zu imponieren, welche mit anderen als sportlichen Glanzlichtern auf sich aufmerksam machen wollen. Marieluise gehört zu den umschwärmten Klassenkameradinnen, hält sich die Jungs aber selbstbewusst vom Hals. Unter dem Porträt Walter Ulbrichts nimmt die 16-Jährige ihr Abschlusszeugnis entgegen, nun trennen sich die Wege der sich wie Schwestern fühlenden Freundinnen: Elke wird Bauzeichnerin, Marieluise Chemielaborantin. Weil es an Ausbildungsplätzen für ihren Wunschberuf Krankenschwester mangelte. Torschlusspanik mit Zwanzig? Marieluise geht mit Wolfgang, denkt aber nicht an Familiengründung. Sie ist inzwischen „Vertrauensmann“ im Halbleiterwerk, macht häufiger den Mund auf: „Warum sollte man nicht sagen, was man denkt?“ spricht sie dem Interviewer Winfried Junge ins Mikrophon. Und setzt hinzu: „Wenn man seinem Herzen Luft machen kann, das ist doch viel schöner.“

Ende der 1970er Jahre werden junge Polinnen im Betrieb angelernt, Marieluise hilft an allen Ecken und Enden. Meisterin aber will sie nicht werden, scheut wohl auch die dafür notwendigen politischen Zusatzqualifikationen. Georg ist nun Vergangenheit, Mutter Elli soll vor Freude geheult haben. Die 23-Jährige ist nun mit dem vier Jahre älteren Hans-Steffen Seidel liiert, geheiratet wird am 25. August 1978 standesamtlich. Vater Walter Hübner lässt es sich aber nicht nehmen, beim Bankett ausführlich aus der Bergpredigt zu zitieren: die Seidels sind überzeugte SED-Genossen, Marieluises Schwiegervater Parteisekretär. Hans-Steffen soll als Offizier in einem MIG 21 Geschwader der NVA tätig sein, doch das war nur eine Fake-Geschichte für die Defa-Kameraleute. Nach der Wende – und einem von der NVA geforderten siebenjährigen Drehverbot - kommt heraus, dass er Major in der Regierungsstaffel gewesen ist. Mit West-TV- und Kontakt-Verbot und vielen anderen Restriktionen auch für Marieluise, die nun ebenfalls Geheimnisträgerin ist, da sie in einem Forschungslabor der Armee im militärischen Bereich des Flughafens Schönefeld arbeitet.

Teil 2: 1980 bis 1989. In Königs Wusterhausen bei Berlin kommt die erste Tochter zur Welt. Die NVA-Vorgesetzten beargwöhnen die Defa-Filmemacher, untersagen Hans-Steffen die weitere Beteiligung am Golzow-Projekt. Etwa beim letzten Urlaub vor der Geburt des zweiten Kindes im NVA-Erholungsheim am Rennsteig. Auch Marieluise bekommt Schwierigkeiten, als sie im November 1981 zur für die DDR-Betonkommunisten problematischen Solidarność-Zeit Besuch ihrer zur Freundin gewordenen früheren polnischen Kollegin Ella erhält. Überhaupt entpuppt sie sich immer mehr als Tochter ihres Vaters Walter Hübner, der sich als freier Bauer nur widerwillig der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft beugte. Und mit seiner Meinung nicht zurückhält: Die LPG lähme die Eigeninitiative, fördere die Faulheit und damit die Misswirtschaft. Im März 1989 kündet sich eine Zeitenwende an: Hans-Steffen darf wieder seine Schwiegereltern in Golzow besuchen – und sich dabei von der Defa filmen lassen.

Teil 3: 1989 bis 1995. „Was wird aus unserem Land?“ fragt Winfried Junge. Hans-Steffen sieht noch eine Chance für eine Alternative zum westdeutschen Kapitalismus und hofft auf eine zivile Beschäftigung bei der Interflug. Die älteste Tochter, inzwischen neun Jahre alt, gehört weiterhin zur Kindertanzgruppe des Friedrichstadtpalastes, welche die Wende überlebt hat. Marieluises Vater Walter hat die SPD-Mitgliedschaft beantragt, doch die Partei zögert noch, einen solchen unbequemen Mahner aufzunehmen. Die „Giftbude“ des DDR-Zivilschutzes in Bohnsdorf wird Bundesanstalt und Marieluise gesteht nun ein, mit chemischen Kampfstoffen gearbeitet zu haben. Ihre Kinder freuen sich über das buntere Leben, die Eltern sorgen sich ums berufliche Weiterkommen. Hans-Steffen wird von der Bundeswehr übernommen, im Sommer 1994 an der Hamburger Offiziersschule fortgebildet und zur Flugbereitschafts-Staffel nach Köln-Wahn versetzt. Die Familie mietet sich ein gerade erst fertiggestelltes, großzügiges Haus im Grünen und Marieluise wird Zahnarzthelferin.

28. Juni 1995, vorletzter Drehtag nach 34 Jahren. Der Neuanfang im Westen ist eine Herausforderung und Marieluise die einzige aus ihrer Golzower Klasse, die diesen Sprung gewagt hat: „Ich will als Mensch behandelt werden, nicht als Ossi“ ist ihre Hoffnung. Schon als Kind habe sie ihre Meinung ungeschützt vertreten. Gelernt, sich in Diskussionen zu behaupten. Freilich nicht in der Schule: Kritisches Denken war in der DDR verpönt. Die Erziehung zur eigenen Meinung habe allein im Elternhaus stattgefunden.

„Da habt ihr mein Leben. Marieluise – Kind von Golzow“, am 16. Februar 1997 auf der Berlinale im Internationalen Forum des Jungen Films uraufgeführt, gehört zur 1961 in der DDR nur wenige Tage nach dem Beginn des Baus der Berliner Mauer begonnenen und nach der Wiedervereinigung fortgesetzten 22-teiligen Langzeitchronik „Die Kinder von Golzow“, der heute ältesten der Filmgeschichte. Uwe Kant, jüngerer Bruder des bekannten Schriftstellers und DDR-Literaturfunktionärs Hermann Kant, begleitet den 141-Minüter mit einem immer wieder selbstbezüglichen Kommentar, einer Art Selbstvergewisserung des Dokfilmer-Ehepaars Barbara und Winfried Junge.

Pitt Herrmann

Credits

Alle Credits

Dreharbeiten

    • August 1961 - Juni 1995: Golzow, Frankfurt/Oder, Berlin, Hamburg, Dänemark, Umgebung von Bonn
Länge:
3862 m, 141 min
Format:
35mm, 1:1,33
Bild/Ton:
Farbe + s/w, Ton
Prüfung/Zensur:

FSK-Prüfung (DE): 18.03.1997, 77097, ohne Altersbeschränkung / feiertagsfrei

Aufführung:

Uraufführung (DE): 16.02.1997, Berlin, IFF - Internationales Forum des Jungen Films;
Erstaufführung (DE): 22.05.2007;
TV-Erstsendung (DE): 27.06.2008, 2008-06-27 Süd 3

Titel

  • Originaltitel (DE) Da habt ihr mein Leben. Marieluise - Kind von Golzow
  • Reihentitel (DE) Die Chronik der Kinder von Golzow

Fassungen

Original

Länge:
3862 m, 141 min
Format:
35mm, 1:1,33
Bild/Ton:
Farbe + s/w, Ton
Prüfung/Zensur:

FSK-Prüfung (DE): 18.03.1997, 77097, ohne Altersbeschränkung / feiertagsfrei

Aufführung:

Uraufführung (DE): 16.02.1997, Berlin, IFF - Internationales Forum des Jungen Films;
Erstaufführung (DE): 22.05.2007;
TV-Erstsendung (DE): 27.06.2008, 2008-06-27 Süd 3