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Ein älterer Architekt bekommt den Auftrag, ein besetztes Haus im Berliner Stadtteil Kreuzberg zu sanieren. Dann aber lernt er eine Studentin kennen, die sich mit einer Bürgerinitiative dafür einsetzt, das Wohngebiet am Chamissoplatz zu erhalten. Er verliebt sich in die junge Frau, obwohl er damit seinen Auftrag gefährdet. Von seinen Gefühlen geleitet, wechselt der Architekt schon bald die Seiten und unterstützt die Anwohner des Platzes in ihrem Kampf gegen die Bauspekulanten.
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Der freundlich-besonnene, noch beinahe jugendlich wirkende Leser der „Frankfurter Rundschau“, macht nicht den Eindruck, zu den ausbeuterischen Immobilienhaien zu gehören, welche Anna und ihre Kommilitonen des Profits wegen aus den zwar weder modernen noch gar luxuriösen, aber wenigstens bezahlbaren Wohnungen herausklagen wollen. Die sich deshalb zu einer Mieterinitiative zusammengeschlossen haben und öffentlichkeitswirksame Aktionen planen, weshalb Martin seine Worte mit Bedacht wählt.
Martin gibt Anna nach dem Interview seine Visitenkarte. Nicht, weil sich der ledige Architekt nach zwei gescheiterten Ehen nach einer neuen Beziehung sehnt, noch dazu mit einer weitaus jüngeren Frau. Sondern aus Selbstschutz: Er muss Interesse daran haben, was mit dem aufgezeichneten Material geschieht. Als Anna ihn wenige Tage später im Büro aufsucht und sich beide zum Essen verabreden, funkt es sofort zwischen ihnen, obwohl Martin bewusst ist, dass Anna ihn nur aushorchen will, ob sie sich Sorgen um die eigene Altbauwohnung machen muss.
Jörg, Annas eifersüchtiger Ex-Freund, setzt sich über die „beknackten Spielregeln der bürgerlichen Gesellschaft“ hinweg und macht sich Martins Offenheit beim Treffen mit der Initiative zunutze, indem er heimlich aufzeichnet, was der Insider an nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Informationen über den Stand der Planungen in der Senatsverwaltung und bei den Hauseigentümern preisgibt: Untersuchungen der Bausubstanz entscheiden darüber, ob ein Haus noch instandgesetzt werden kann oder komplett saniert werden muss.
Statt einer heißen Nacht in Annas Bett hat Martin selbige in seinem Auto vor ihrer Haustür zugebracht, dennoch gibt’s Frühstück mit internationalen Spezialitäten aus der benachbarten Markthalle – in Annas Bett. Und anschließend Schampus im Wannsee-Strandbad: Ein sehr romantischer Auftakt der Beziehung des nicht nur altersmäßig so unterschiedlichen Paares. Die im Kino begonnen hat, mit Jacques Rivettes „Celine und Julie fahren Boot“: Sie ist gerührt und er friedlich eingenickt. Und die in einer ganz besonderen Liebeserklärung gipfelt, welche er in der Nacht in großen Lettern auf die Brandmauer eines Hauses vis-a-vis ihrer Wohnung pinselt. Martin ist kunstinteressiert, wie sich beim Besuch einer Vernissage im Kulturforum Potsdamer Platz, 1980 noch weitgehend eine Grün-Brache um Mies van der Rohes Nationalgalerie herum, zeigt – und Klavierspielen kann er auch noch! Und entscheidet sich unausgesprochen dafür, die Anwohner im Kampf gegen die Bauspekulanten zu unterstützen, wofür Kompagnon Alex natürlich jegliches Verständnis fehlt.
Als Anna schwanger ist, traut sie sich nicht, es ihm zu sagen. Sie unternimmt einen Spaziergang auf den Kreuzberg, beobachtet junge, stillende Mütter. Und bleibt skeptisch, ob sie das Kind will. Erst auf einem spontanen Italien-Trip lüftet sie das Geheimnis – und rennt zur eigenen Überraschung bei Martin offene Türen ein: Er will das Kind unbedingt – und dafür auch zum dritten Mal heiraten. Anna ist konsterniert. Und sehr verunsichert, als sie nach Berlin zum lange vorbereiteten Chamissoplatz-Fest zurückkehren. Wo Jörg und die anderen Aktiven der Initiative kräftig die Werbetrommel rühren, damit möglichst viele Anwohner sich ihnen anschließen. Ein Mittel dazu ist eine Mieterzeitung, in der Martin unter seinem Namen vertrauliche Informationen zur bevorstehenden Sanierung des Chamissoplatz-Viertels liest. Die ihn den Job kosten könnten, weshalb er entsetzt das Weite sucht. Doch Anna schnappt sich kurzerhand den Wagen ihrer Freundin und Nachbarin Claudia und fährt hinterher...
„Das erste Meisterwerk des deutschen Kinos der achtziger Jahre“, so Hans C. Blumenberg („Die Zeit“ vom 19. Dezember 1980) ist zum einen eine sehr leichte, auf beinahe französische Art charmante Liebesgeschichte einer Zwanzigjährigen und eines doppelt so alten, im Herzen wie mit dem Verstand aber ebenso jungen, spontanen und mutigen Mannes, der bereit ist, alles aufzugeben – der Liebe, aber auch der Sache wegen. Und die ist Rudolf Thome nicht weniger wichtig: In der Insel-Lage West-Berlins sind die Immobilienskandale, in die Wirtschaftsbosse ebenso verwickelt sind wie (Spitzen-) Politiker beider großen Parteien, Legion. Und ganz speziell am Chamissoplatz kennt sich der Filmemacher aus, ist er doch zwei Ecken weiter nach Kreuzberg gezogen, in die Fidicinstraße, als er in den 1970er Jahren den Schritt von München nach Berlin wagte, nachdem er 1962 als Student in die Weltstadt mit Herz gekommen war und sogleich für die „Süddeutsche Zeitung“ Filmkritiken schrieb.
„Berlin Chamissoplatz“ beleuchtet noch eine weitere Facette: Hildegard Bach verkörpert als Annas Mutter eine Karrierefrau, die nur wenig Zeit für ihre Tochter aufbringt, als sie von Süddeutschland einmal nach Berlin kommt – beruflich versteht sich. Anna weiß, dass sie nicht so enden will wie ihre Mutter. Andererseits will sie ihre beruflichen Ambitionen, sie arbeitet mit Freude und Erfolg in den Semesterferien bei einem Anwalt, nicht schon während des Studiums an den Nagel einer Mutterschaft hängen. Das Ende lässt Rudolf Thome offen...
Pitt Herrmann