Inhalt
Henry lebt in Los Angeles und verdient als Stand-up-Comedian seinen Lebensunterhalt. Er liebt es, auf der Bühne zu provozieren und Grenzen zu überschreiten – mit großem Erfolg. Seine Frau Ann steht ebenfalls auf der Bühne, jedoch hat sie es als Opernsängerin zu weltweitem Ruhm und Anerkennung gebracht. Das glamouröse Leben des Paares verändert sich grundlegend, als sie ein Kind bekommen – denn das Töchterchen Annette gleicht einer Puppe, sie wirkt wie eine Marionette ohne sichtbare Fäden. Zugleich verfügt sie über ein ganz besonderes musikalisches Talent, das nach einem Schicksalsschlag der Eltern nochmals eine andere Dimension bekommt.
Kommentare
Sie haben diesen Film gesehen? Dann freuen wir uns auf Ihren Beitrag!
Jetzt anmelden oder registrieren und Kommentar schreiben.
Gegensätze ziehen sich an, und dieser zwischen der aus bürgerlichem Hause stammenden, mit der klassischen Kultur früh vertrauten Opernsängerin und dem in prekären Verhältnissen aufgewachsenen Vertreter der häufig immer noch nicht ernstgenommenen Popularkultur ist besonders groß. Dennoch wissen die Moderatoren des TV-Boulevardmagazins „It’s Showbiz News“ zu berichten, dass die beiden geheiratet haben – und bald ihr erstes gemeinsames Kind erwarten. Nachdem Annette auf der Welt ist, kriselt es in der Ehe: Ann reist als gefeierter Star um die halbe Welt, er wird als Babysitter daheim allmählich zum Alkoholiker. Ein Comeback in Las Vegas wird zum Fiasko.
Doch dann weiß der Sender zu berichten, dass das berühmte Ehepaar auf seiner Yacht Urlaub macht und die Moderatoren stellen die Frage: „Ein verzweifelter Versuch, die Ehe zu retten?“ Sollte es einer gewesen sein, geht er gründlich schief: In einer stürmischen Nacht auf hoher See kommt es zum handfesten Streit und Ann wird über Bord gespült. Die Polizei hegt zwar keine ernsthaften Zweifel an Henrys Unfall-Aussage, aber Ann taucht in seinen Alpträumen immer wieder als Untote auf und verspricht, dass die Tochter sie rächen wird: „Ihre Stimme wird mein Geist sein.“
Zusammen mit dem Dirigenten vermarktet Henry seine Tochter als „Baby Annette“. Was er nicht weiß: Das nicht nur gesanglich hochbegabte Kind hat den Tod ihrer Mutter damals durch das Bullauge ihrer Kabine verfolgt. Als es einen zweiten Toten gibt, der vielleicht ihr leiblicher Vater ist, nutzt der Kinderstar die zugeschaltete Weltöffentlichkeit bei der Halbzeitshow des Hyper-Bowls, um die Wahrheit ans Licht zu bringen: „Daddy bringt Leute um.“
Nach dem experimentellen Film „Holy Motors“ bringt Leos Carax mit „Annette“ ein düsteres Märchen als Musical auf die große Kinoleinwand mit vierzig Titeln der als „Sparks“ bekannten Brüder Ron und Russell Mael, bei dem die Lieder größtenteils auch die gesprochenen Dialoge ersetzen. Annette ist zunächst nur eine Holzpuppe aus der Werkstatt von Estelle Charlier und Romuald Collinet, erst ganz am Ende, als sie ihrem im Gefängnis sitzenden Vater emotional den Todesstoß versetzt, übernimmt Devyn McDowell den Part des kindlichen Racheengels. Ohne zuviel preisgeben zu wollen: Auch sonst steckt dieser mit 140 Minuten sehr lange Streifen mit Kultfilm-Potential voller Überraschungen. Zu denen eine geradezu klassische Ouvertüre, wie wir sie kürzlich auch bei Steven Spielberg („West Side Story“) genossen haben, ebenso gehört wie die suggestiv ausgeleuchteten Bildwelten der Kamerafrau Caroline Champetier.
Leos Carax im Alamode-Presseheft: „Musicals geben dem Kino eine andere Dimension – fast buchstäblich: Man hat Zeit, Raum und Musik. Und sie geben einem eine wunderbare Freiheit. Man kann eine Szene inszenieren, indem man einfach nur der Musik folgt. Oder indem man gegen sie anspielt. Man kann alle erdenklichen widersprüchlichen Emotionen zusammenmischen, auf eine Weise, die völlig undenkbar wäre in Filmen, in denen Menschen nicht singen oder tanzen. Man kann grotesk und tiefgreifend sein, zur selben Zeit. Und Stille! Stille wird zu etwas völlig Neuem. Weil die Stille nicht nur im Kontrast zum gesprochenen Wort und den Klängen der Welt steht, sondern eine tiefere Bedeutung hat.“
Pitt Herrmann