Was nützt die Liebe in Gedanken
Was nützt die Liebe in Gedanken
Horst Peter Koll, film-dienst, Nr.3, 05.02.2004
Wohin treiben wir? So fragte schon die junge Bürgersfrau Melanie in Theodor Fontanes „L’Adultera“, als sie fiebernd vor Begehren und unerfüllter Liebe in einem leise schaukelnden Boot unter funkelnden Sternen den Strom hinabtrieb. 50 Jahre später, mitten in der Zeit der vom Aufbruch geprägten und doch so fragilen Ruhe der Weimarer Republik verbindet sich für eine sinnsuchende Jugend existenzielles Fragen immer noch mit spätromantischen Träumereien zu einer ungebrochen „modernen“ Sehnsucht nach dem „Übergroßen“, nach Mythen und mächtigen Gesten in einer verwirrenden Zeit. Dies ist auch ein Generalthema des aktuellen jungen deutschen Kinos: die Suche jugendlicher Menschen nach einem Sinn in ihrem Dasein, nach einem sinnvollen Platz im Leben, der ihnen angesichts ihrer Träume und Wünsche, Hoffnungen und Verzweiflung Halt und Orientierung bietet. Nicht zuletzt Daniel Brühl hat sich zum exemplarischen Stellvertreter dieser Generation herauskristallisiert: ob als grübelnder Schüler („Schule“, fd 34 600), als dem Wahnsinn naher Heilssucher („Das weiße Rauschen“, fd 35 263), als der Liebe verfallender Mönch („Vaya con dios“, fd 35 330) oder als aufbrausender Boxer („Elefantenherz“, fd 35 905) – stets ist Brühl ein glaubwürdiger Seismograf für die seelischen Befindlichkeiten einer Jugend, die zwar im permanenten Clinch mit den Normen der Erwachsenen liegt, daraus aber keine Rebellion oder einen Aufstand ableitet, weil sie viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist und den eigenen Mangel an Lebens- (und Kunst-)Erfahrungen auszugleichen sucht.
Nun also Daniel Brühl als Schüler proletarischer Herkunft, angehender Literat und schwärmerisches Mitglied eines „Selbstmörderclubs“ in einer Geschichte aus den Weimarer Republik, die zeitlich recht genau zu verorten ist: Es ist das sommerliche, heiße Wochenende um den 27. Juni 1927. Die Menschen treibt es aus Berlin heraus an die kühlen Badeseen – „Menschen am Sonntag“, die ihr Vergnügen suchen, das mehr oder weniger unverbindliche erotische Abenteuer als Ablenkung vom öden Arbeitsalltag. Regisseur Achim von Borries hat sich den gleichnamigen deutschen Stummfilm- Klassiker von Robert Siodmak, Fred Zinnemann, Billy Wilder und einigen anderen jungen Avantgarde-Bilderstürmern sehr genau angesehen, um eine atmosphärisch und soziologisch präzise Basis für seinen Film zu schaffen – es wäre spannend, beide Werke einmal hintereinanderweg zu sehen, um die jungen Laiendarsteller an den Originalschauplätzen von einst mit den heutigen Interpreten zu vergleichen; nicht nur, dass manche Szene und Konstellation nahezu deckungsgleich erschiene, würde man doch noch deutlicher spüren, wie souverän von Borries mit seinem Sujet umgeht – und sich sogar kleine (Insider-)Witz erlaubt, etwa wenn die zeitgenössische Musik, die aus einem Grammofon quakt, das direkt vom Badestrand in „Menschen am Sonntag“ stammen könnte, den jugendlichen DJ zum „Scratchen“ auf einer alten Schellack-Platte verleitet.
Wie in seinem Erstling „England!“ (fd 35 033) gelingt von Borries eindrucksvoll der Spagat zwischen realistischem Stimmungsbild und philosophischer Weltbeschreibung, wobei er mit großer Zärtlichkeit seine entwurzelten Jugendlichen konturiert und ihr mal verklärtes, mal hysterisches „Spiel“ um Leben und Tod, Liebe und Verzweiflung sinnlich wie gedanklich nachvollziehbar macht. Eingebettet in eine Rahmenhandlung, entwickelt sich das Geschehen in einer langen Rückblende als diskursive Aufarbeitung einer Katastrophe: Wie kam es dazu, dass sich am Ende dieses Wochenendes im Sommer 1927 ein junger Mann erschießt, nachdem er zuvor seinen Freund und Geliebten, den er an die eigene 16-jährige Schwester verlor, getötet hat? Das klingt nach reißerischer Sensation, und war in der Tat seinerzeit ein die Öffentlichkeit schockierendes Thema, das als „Steglitzer Schülertragödie“ in die Annalen einging und mit Schlagworten wie Exzess und Schuld belegt wurde.
Von Borries aber taucht unter die Epidermis des Spektakulären und folgt der subjektiven Sichtweise des Schülers Paul, der seinem Freund Günther an einem unbeschwerten, sonnendurchfluteten Tag ins elterliche Wochenendhaus bei Mahlow folgt. Dort lernt der passionierte Jungdichter Hilde kennen, Günthers Schwester, die in fasziniert, sich ihm aber nach ersten koketten Annäherungen entzieht, um zwischenzeitlich zu ihrem Geliebten, dem Koch Hans, nach Berlin zurückzufahren. Derweil durchstreifen Paul und Günther die Gegend, genießen die großbürgerliche Idylle – und geraten ins Philosophieren, Schwärmen und Pläneschmieden. Vielleicht sei jeder Mensch nur einmal im Leben richtig glücklich, sinnieren sie, wofür er sein Leben lang bestraft würde, weil er diesen Moment nicht vergessen könne; woraus für die jungen Männer die Erkenntnis reift, dass es wohl am besten sei, wenn man sich „am höchsten Punkt“ aus dem Leben verabschiede. Und da die Liebe der einzige Grund sei, für den es sich zu sterben und zu töten lohnt, schwören Paul und Günther, sich in dem Moment zu töten, in dem sie ihre große Liebe verlieren – und all jene mit in den Tod zu nehmen, die sie dieser Liebe beraubt haben. Fortan stehen alle Geschehnisse unter dem Eindruck dieses fatalen Schwures, wird alles doppelbödig und doppeldeutig: das Eintreffen jugendlicher Freunde bei einer ausgelassenen Wochenend-Party, das (homo-)erotische Abtasten, Begehren und Ausprobieren, das durch Alkohol aufgepuschte Stimmungshoch, auf das nach einer langen Nacht die Ernüchterung und der seelische Kater folgen – und der fatale Sonntag, an dem es für Günther zur Einlösung des Paktes kommt, während Paul aussteigt und sich den Konsequenzen des Weiterlebens stellt.
Es ist eine hochdramatische und höchst sinnliche Geschichte, an der von Borries weniger die Katastrophe am Ende als die Stimmungen und Gefühle auf dem Weg dorthin interessieren. Subtil registriert er in die vielen Facetten im Argumentations- und Gefühlsgefüge, beschreibt die drohenden Abgründe für die jugendlichen Grenzgänger wie die zur selben Zeit notwendige Chance der existenziellen Selbstfindung. Dazu sind weniger große Worte oder ausufernde Dialoge vonnöten als poetische Stimmungsbilder, für die von Borries sogar demonstrativ die Gespräche ausblendet, um die Szenerie mit Musik und Geräuschen aufzuladen. Das sanfte Rauschen des Windes in stiller Nacht; die glatte Oberfläche des Gewässers, die vorübergehend durch Kopfsprünge oder nahezu mörderische Kämpfe der Protagonisten aufgewühlt wird, bevor sich wieder der weiße Morgendunst ausbreitet; das spannungsreiche Innehalten und Verharren in trägen Momenten, die ein aufkommendes Gewitter vorwegnehmen – das sind ästhetisch ausgesuchte Momente eines filmischen Erzählens, wie man es lange nicht mehr so eindrucksvoll im deutschen Kino erlebt hat.
Während die Kamera genussreich mit Licht wie Dunkelheit jongliert und eine eigene modische Ästhetik kreiert, ist es vor allem der Umgang mit dem Ton und der Musik, der fesselt: der Absinth-Rausch während der Party, das Verlieren und Torkeln auf dem ebenso betörenden wie fatalen Grat von Genuss und Absturz weckt Assoziationen an Mischa Spolianskys zeitgenössischen Schlager „Morphium“, jenen exotischen valse boston mit einer ähnlich „torkelnden“ Melodie, der schon Anita Berber zu einem berühmt-berüchtigten „Tanz des Grauens, des Lasters und der Ekstase“ diente. In solchen und vielen weiteren Momenten gelingt von Borries eine atemberaubend suggestive, höchst inspirierende Reflexion über den Sinn des Lebens, die Liebe und die ewig neue, zeitlose Reise des Menschen zu sich selbst. Der Selbstmord ist dafür lediglich spektakulärer Movens, zugleich ein artifizieller, literarisch codierter Topos, der exakt einem schwärmerisch-morbiden Mosaikstück im Zeitbild der 1920er- und frühen 1930er-Jahre entspricht. Großes Kino! Wer weiß, wohin der deutsche Film noch treibt?