Grüne Wüste
Liebe und Leukämie
Daniel Kothenschulte, Frankfurter Rundschau, 27.01.2001
Was passiert, wenn das deutsche Kino plötzlich den Teenagerfilm für sich entdeckt und mit erstaunlichen Ergebnissen aufwartet? Wenn dem in diesem Metier immer schematischeren Hollywoodangebot eine ungekannte Milieutreue und Einfühlsamkeit entgegengesetzt wird? Noch dazu vorzüglich besetzt und fern von szenischen Äußerlichkeiten? Nun, es wird ein verdienter Kassenerfolg daraus wie "Crazy", professionell verliehen von einem amerikanischen Verleih. Oder es wird eine Privatangelegenheit daraus für wenige Eingeweihte wie "Grüne Wüste", diese Woche ins Kino gebracht vom hoffnungslos überforderten Kleinverleih "Lichtmeer". Es ist ein Trauerspiel. Der einzige Ort, an dem die melodramatische Liebesgeschichte zwischen einer 14-jährigen und ihrem ein Jahr älteren, leukämiekranken Freund ihr Publikum fände, wären die Multiplexe. Stattdessen sieht man das zurecht mit allerhand Vorschusslorbeeren bedachte Kleinod in einer Stadt wie Köln im kleinsten Saal, den die Ufa-Kette unter dem "art house""-Label anzubieten hat und einem studentischen Vorortkino. Die Kunstkino-Etikettierung mag ehrenvoll gemeint sein – für das Marketing ist sie fatal.
Das manchmal nur einen Sommer währende Vakuum zwischen Kindheit und Erwachsensein ist das Territorium der Coming-of-Age-Geschichten. Doch umwälzende Entwicklungen halten sich nicht an Jahreszeiten, und es gehört zu den Besonderheiten dieses Films, dass er sein flüchtiges Metier mit ungewöhnlich vielen Koordinaten zu bestimmen weiß. Die Abenteuerspiele der Klassenkameraden Katja und Johann könnten ihnen selbst als infantil erscheinen, aber so ist das eben in einem Alter, in dem "Die Brüder Löwenherz" und "Ronja Räubertochter" zu den liebsten Büchern gehören. Noch lange bevor die studentische Nostalgie wieder nach der Maus und dem Elefanten rufen wird, können die Reste der Kindheit ein lebenswichtiger Schutzraum sein und der Ort der letzten Abenteuer, die man überhaupt noch als solche lebt.
So geht es der verspielten Katja, doch so wie Tatjana Trieb, als Kind einmal der eigentliche Star in "Jenseits der Stille", sie verkörpert, wirkt, sie reifer als alle um sie herum. Eingeschlossenen die Erwachsenen: ihr Vater (Ulrich Noethen) erscheint ihr als Waschlappen angesichts der Affäre, die sich ihre orientierungslose Mutter (Martina Gedeck) leistet.
Die gilt ausgerechnet dem versoffenen Vater (Heino Ferch) ihres Spielgefährten Johann. Johann (Robert Gwisdek) ist der Gefährte ihrer kindlichen Ritterspiele und Schatzsuchen in einer alten Burg. Ein harmlos anmutendes Nasenbluten erweist sich als Vorbote einer Tragödie, deren rasanter Verlauf Katja schneller altern läßt, als es selbst ein Coming-of-Age-Drama vorsieht. Johann hat Leukämie. Schonungslos zeichnet Anno Sauls schlichter, sich jeder kunst- oder gefühlsseligen Überhöhung enthaltener Film das Bild der damit einhergehenden Isolation. Selten hat man ein so trostloses Krankenzimmer im Kino gesehen. Ausnahmslos hilflos reagieren die Erwachsenen. Sein Vater macht ihn zum Zeugen seiner unbeholfenen Affäre, seine Klassenlehrerin sperrt ihn während der Pausen weg. Und die Liebe zur mutig-empfindsamen Tatjana erscheint ihm als qualvoller Beweis eines Lebens, das ihm geraubt werden soll.
Ein Film über den Tod ist gut beraten, ganz auf die Lebendigkeit seiner Protagonisten zu setzen. Tatjana Trieb dominiert jede Szene; das ist durchaus gerechtfertigt, denn dies ist, wie gesagt, ein Erwachsenenfilm. Von deren Welt, der heranwachsende Tatjana steht sie noch bevor, macht uns Sauls Film keine Illusionen; dort findet die wahre Pubertät erst noch statt: Auch wenn Martina Gedecks Mutterrolle in ihrer Orientierungslosigkeit durchaus nachvollziehbar ist, geht Saul im einzigen exponierten Regieeinfall doch arg mit ihr ins Gericht: Parallel zu den ersten Küssen der Teenager schneidet er den verschwitzten Küchensex des unreifen erwachsenen Paars, hier die Unschuld, da die Unbeholfenheit.
Doch so unverkennbar pessimistisch Anno Sauls Blick auf die provinzielle Tristesse ist, so angenehm selten sind solch moralische Stellungnahmen. Von imponierender Schlichtheit, aber auch frei von exponierter Kühle sind Gero Steffens Kamerabilder. All diese Beschränkung dient einer so kühnen, entromantisierten und unverklärten Sicht auf den Tod, wie er – wo immer man diesen Film auch verorten will – selten ist im Kino: dem der Teenager und dem der Erwachsenen sowieso.