Obsession
Obsession
Jan Diestelmeyer, epd Film, Nr. 9, September 1997
Bevor Obsession seine vier Handlungs-, bzw. Persönlichkeitsstränge einrührt, um sie kurz darauf zusammenzubringen, gibt es einen bildlichen Prolog: Weiß auf schwarz, als umgekehrter Schattenriß, präsentiert sich uns ein Drahtseilakt, bei dem eine zweite Person auf den Schultern des Akrobaten zu sitzen scheint. Das Klopfen eines Herzens aus dem Off erschlägt jeden Zweifel – hier geht es um Existentielles.
Schon der Anfang hat mit einer Frage von Leben und Tod zu tun. Berlin: Pierre (Charles Berling), ein französischer Biochemiker, versucht in seinem Labor das Herz eines Tieres mittels einer neuen Methode wiederzubeleben. Auf einer Trauerfeier spielt ein Blasorchester, Miriam (Heike Makatsch) liefert gerade ihr Solo, als der Küster feststellt. daß der Sarg verwechselt worden ist, und alles nochmal von vorn beginnt. Der Südafrikaner John (Daniel Craig) träumt im Flugzeug von dem Drahtseilakt, der diesmal über den Niagarafällen stattfindet. Kurz nach seiner Landung wird er Zeuge, wie der Ladendieb Jacob (Seymour Cassel) von einem übereifrigen Kaufhausdetektiv fast zu Tode gehetzt wird.
In einem U-Bahnhof endet die Flucht, und genau hier kommen alle vier zueinander. Jacob bricht vor Erschöpfung zusammen. John versucht gegen den Widerstand der Polizei, Hilfe herbeizuholen. Pierre leistet als einer der umstehenden Passanten erste Hilfe und Miriam fotografiert das Ganze.
Diese Anfangssequenz steht ästhetisch in einem so deutlichem Kontrast zum Bildprolog, daß Hoffnung keimt. Mit lauter Unklarheiten beginnt die Geschichte (wer sind diese Menschen, was soll der Traum, warum stiehlt ein seriöser älterer Herr billige Kaufhaus-Knöpfe?) und zugleich mit einem Tempo, das erst einmal alle Aufmerksamkeit will. Die packende Verfolgungsjagd, bei der die John-Cassavetes-Legende Seymour Cassel durch die Straßen von Berlin hetzt, ist vor allem das Verdienst des Star-Kameramanns David Watkin (Jenseits von Afrika, Catch 22). Der zeigt sein ganzes Gefühl für Timing und Dramatik mit einer unprätentiösen Souveränität, die Obsession über die gesamten zwei Stunden gut getan hätte.
Aber es kommt anders. Von dem Augenblick an, in dem sich die Anfangsfragen zu klären beginnen, entlädt Obsession seine ganze krude Mischung aus Wim-Wenders-Romantik, Achtziger-Jahre-Berlin-Urbanitätsphantasien und französischer Amour-fou-Dramatik. Um es möglichst kurz zu machen: John sucht einen 60 Jahre alten Film, der die Überquerung der Niagarafälle durch einen Drahtseilakrobaten zeigt, auf dessen Schultern eine zweite Person sitzt. Dieser Film ist für ihn lebenswichtig; er scheint irgendetwas mit dem Tod seiner Großmutter zu tun zu haben. John wird durch den dankbaren Jacob und dessen Bruder Simon unterstützt, die als liebenswerte, mit viel jiddischem Witz versehene gute Geister eine aus dem Berlin der zwanziger Jahre entlehnte Schneiderei betreiben. Durch sie lernt John schließlich Frau Beckmann (Marie-Christine Barrault) und ihr riesiges Filmarchiv kennen. Außerdem hat sich John unsterblich in Miriam verliebt.
Die liebt ihn auch, ist aber mit Pierre zusammen, den sie auch liebt. Miriam studiert Musik und ist Teil einer Berlin-Rock-Mädchenband. Der Name der Band könnte auch als Titel der Berlinsequenzen von Obsession durchgehen: "Berlin United", Pierre dagegen ist Marathonläufer und aufstrebender Biochemiker, der gerne "dem Tod ein"s "reinwürgen" möchte und mit Miriam ein ganz schön verrücktes Großstadtpaar bildet.
Das Dreiecksdrama spitzt sich zu. Miriam verliert nach kurzer Schwangerschaft ihr Kind, zieht mit Pierre in die französische Provinz und wird dort von John heimgesucht. Alle drei sehen sich schließlich halb wahnsinnig vor dem Problem der Entscheidung, die Miriam nicht treffen kann. Spätestens hier stößt auch Heike Makatsch an ihre Grenzen und scheint selbst ratlos vor ihrer Miriam zu stehen. Zu guter letzt taucht in Paris auch noch der inzwischen greise Akrobat des von John gesuchten Balance-Aktes auf. um ein wenig über den Sinn des Lebens zu dozieren: "Die Angst ist nur im Kopf."
Einmal mehr drängt sich somit nach einem Film die Frage auf, wie es geschehen kann und wer eigentlich ein Interesse daran hat. daß Bilder im Kino zu Zeichen schrumpfen, die in ihrer Kombination zu Gesten werden und sich damit selbst ihrer Kraft berauben. Peter Sehr jedenfalls hat nach Kaspar Hauser sein Ausdrucks-Kino fortgesetzt, das diesmal in noch stärkerem Maße einem klischeehaften Blick auf sein Sujet unterliegt. Berlin zeigt seine Herz-mit-Schnauze-Taxifahrer, crazy-coole Großstadtpärchen und die notorischen Rockgruppen, die so verdammt beneidenswert jugendlich-spontan mit dem Band-Bulli durch die Stadt brettern und vielleicht mal eine Tour nach Skandinavien angeboten bekommen. Sobald es nach Frankreich geht, werden Baguettes und Rotweinnaschen zur ersten Ausstattungspflicht. Von der Filmmusik, die jedes Ereignis kommentieren muß, besser gar nicht zu reden.
So sehr also Namen wie Cassel oder Watkin Erwartungen wecken, so systematisch unterläuft Obsession seine gelegentlich aufkeimenden Möglichkeilen – jeder unspektakuläre, gelungenere Moment wird in der nächsten Sekunde durch eine Schlagetot-Metaphorik eingestampft.