Obsession

Deutschland Frankreich 1996/1997 Spielfilm

Ein seltsames Spiel

 

Norbert Grob, Die Zeit, 29.08.1997

Eine Frau verlässt mit ihrem französischen Freund Berlin und siedelt sich in einer kleinen Stadt in Burgund an. Kurz darauf schickt sie einem anderen Mann eine Nachricht. Keine Adresse, nur ein Photo: eine Straßenkreuzung, zwei Bäume, ein Wegweiser – "Paris 277 km". Der Mann macht sich auf, diesen Ort zu suchen. Eine Irrfahrt aus Sehnsucht und Liebe beginnt.

Eine Episode voller Esprit, mysteriös und berührend. Bloß – der Film zeigt sie nicht. Was man statt dessen sieht, sind nur die roten Kreuze auf der Landkarte rund um Paris, wo der Mann den Ort überall zu finden hoffte, kurz bevor er ihn dann tatsächlich aufspürt. Eine vertane Chance.

Und die nächste folgt gleich. Als der Mann vor der Kreuzung steht, bleibt ihm nicht ein Moment der Verwunderung. Er parkt, lässt sich nieder, richtet sich ein. Am nächsten Morgen kommt die Frau. Sie sieht ihn, lächelt, geht auf ihn zu, lacht. Ein paar Sekunden später packt er sie und wirft sie auf die Matratze. So plump kann eine schöne Idee enden.

In "Das Serbische Mädchen" und "Kaspar Hauser", seinen beiden ersten Filmen, hat Peter Sehr ein Gespür für eigenwillige Menschen in außergewöhnlichen Situationen bewiesen, für spröde Stimmungen und Emotionen. Seitdem gehört er zu den Hoffnungen des deutschen Kinos. Nun will er alles schneller und spannender und publikumswirksamer machen. Er erzählt von einer jungen Musikerin, die mit einem französischen Biologen zusammenlebt und sich in einen rhodesischen Steinmetz verliebt. Dem einen ist sie innig zugeneigt, von dem anderen will sie nicht lassen: Heike Makatsch zwischen Charles Berling und Daniel Craig.

Nun könnte sich das uralte, ewig neue Spiel entfalten um Irrungen und Wirrungen, Kabale und Liebe, Gewalt und Leidenschaft. Doch Peter Sehr läßt seinen Helden keine Zeit und keinen Raum. Es wird nur geredet, geredet und geredet. Und jede Figur mit Fähigkeiten und Vorlieben, mit Talenten, Neigungen, Hobbys zugeschüttet.

Die Musikerin Miriam ist auch Studentin für Orgel und Trompete, pflegt allerdings erster Klasse zu reisen. Sie ist Mitglied einer Frauenband, die Massen in die Berliner Waldbühne lockt, hat es aber nötig, auf Beerdigungen zu musizieren, um Geld zu verdienen. Außerdem ist sie leidenschaftliche Photographin, die "Details bemerkt, die andere übersehen". Ihr Freund Pierre arbeitet in der medizinischen Forschung und "will dem Tod eins auswischen". Außerdem ist er obsessiver Marathonläufer, leidenschaftlicher Autofahrer – und eifersüchtig bis in den Geruchssinn. John, der Steinmetz aus Simbabwe, ist auch Bildhauer, spielt Mundharmonika (einmal sogar im Duett mit der Organistin), kann Filmprojektoren und Schneidetische bedienen, Stoffe zuschneiden und Schränke bauen. Er beherrscht außerdem einige Kampftechniken, und sein Großvater hat in Afrika seine Großmutter erschossen, mit dem Hinweis, er habe sie des Nachts für einen Gorilla gehalten. Seit seiner Jugend will er das Geheimnis seiner Großeltern enträtseln, im Nachlass gefunden auf einem Zeitungsphoto, das einen Artisten von hinten zeigt, der mit einer anderen Person auf den Schultern die Niagarafälle überquert, Anfang der dreißiger Jahre. Dafür durchstöbert er Film- und Photoarchive rund um die Welt.

Daß die drei bei diesem Durcheinander ihre Probleme miteinander haben, ist das ein Wunder?

Schon in einer der ersten Szenen wirkt der Film themenlastig und überzogen. Da steckt ein alter Mann in einem Berliner Kaufhaus ein paar goldene Knöpfe ein. Er wird dabei erwischt. Als er sich dennoch losreißen kann, verfolgt ihn ein fanatischer Hausdetektiv bis über die Straße, bis zu einem kilometerweit entfernten U-Bahnhof. Die Idee für eine Situation (die der neurotischen Normalität des Kleinbürgers) triumphiert über die Plausibilität der Erzählung und ihrer Figuren. Sehr will nicht einfach nur den Tanz zwischen den Personen eröffnen, sie sich treffen und kreuzen lassen, sondern am Rande noch schnell den Zustand dieses Landes kommentieren. Man spürt die Absicht und ist verstimmt.

Dabei sind die Bilder gut kadriert, die Schauspieler bis in die kleinsten Rollen hervorragend (Heike Makatsch etwa ist oft von einer atemberaubenden Präsenz). Und doch stimmt nichts; der Film ist überladen und geschwätzig, geheimnislos und langweilig. Und daß eine Frau es vorzieht, nicht mit einem, sondern mit zwei Männern zu leben, ist nun wirklich schon zarter, aufregender und spielerischer erzählt worden, nicht nur von Truffaut.

Einige Momente an der Peripherie des Films lohnen das Hinschauen dennoch. Die Geschichte der beiden jüdischen Schneider (Seymour Cassell und Allen Garfield), die sich im Alter unentwegt zanken und doch unendlich mögen, die zusammen Puppen bauen und um die gleiche Frau werben, ist wundersam fragil und liebevoll skizziert. Da beweist Sehr, wozu er in der Lage ist, wenn er sichtbar macht, was ihn wirklich interessiert.

Und am Ende, als John schließlich den so lange gesuchten Seilartisten findet, taucht tatsächlich Daniel Gélin auf, der alte Ewigschüchterne des französischen Kinos (bei Jacques Becker, Max Ophüls, René Clément). Es wirkt wie eine Begegnung mit einer anderen Welt. Gélin bringt doch noch einen Hauch chaotischer Sensibilität in den Film. Dazu darf er einen wunderbaren Satz sagen: "Wenn du dein Gleichgewicht findest, kannst du nicht fallen, ganz gleich, wie hoch du bist."

© Norbert Grob

 

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