Gefundenes Fressen

BR Deutschland 1976 Spielfilm

Ein anderes Rühmann-Lachen

... in Michael Verhoevens sehenswertem Film "Gefundenes Fressen"


Helmuth Schmitz, Frankfurter Rundschau, 29.04.1977

Eine deutsche Filmkomödie mit Heinz Rühmann in der Rolle eines Stadtstreichers, Penners, Obdachlosen – muß das nicht schier zwangsläufig ein neuerliches Mal hinauslaufen auf Sozialkitsch, auf ein alle realen Widersprüche zwecks "guter Unterhaltung" einplättendes, verlogen-humanitäres Rührstück, das den Schwachen für ein paar Stunden bestärkt in der geduldigen Hinnahme dessen, was schwach macht und schwach hält, ihn versöhnlich , stimmt mit Unversöhnbarem? Es muß nicht.

Michael Verhoeven beweist dies in seinem neuen Film "Gefundenes Fressen", der seit Wochen in bundesdeutschen Kinos beste Kasse macht und nach dem Ratschluß der Verleiher und Kinokettenbesitzer nun sogar nach Frankfurt kommt. Heinz Rühmann spielt einen alten Mann, der – sparsam in Rückblenden angedeutet – von den schlimmen Ereignissen des Krieges samt familiärer, Katastrophen so gezeichnet ist, daß er, hernach als noch nicht einmal 40jähriger die Kraft zum Neuanfang nicht mehr fand. Er verweigerte sich der Welt, die rings um ihn aus Trümmern sich wiederaufbaut.

Heinz Rühmann spielt diesen Alfred Eisenhardt sehr zurückgenommen, doch keineswegs ganz außerhalb des bei ihm bekannten Figurenarsenals. Verhoeven bringt ihn nicht in die typischen Rühmann-Situationen, sondern modifiziert sie, gönnt Ihrem Protagonisten endlich Selbständigkeit, Charakter, Festigkeit.

Eine bislang undenkbare Rühmann-Szene als Beispiel. In seinen Stadtstreicherklamotten streift er durchs Kaufhaus, wohin ihn der Film bereits mehrfach zum Mundraub begleitet hatte. Diesmal wird Alfred erwischt, kommt zum Abteilungsleiter und verweist diesen nach entsprechenden moralischen Vorhaltungen ganz kühl darauf, daß derlei von den Konzernen längst finanziell eingeplant sei und von der Steuer abgesetzt werde. Noch besser: Heinz Alfred Rühmann geht zum Gegenangriff über, merkt beiläufig an, daß bei Ahndung derartiger Bagatalldiebstähle von seiten des Konzerns Steuerbetrug vorliegen könnte.

Das ist, der große Begriff sei gern angewandt: Dialektik, mit einer neuen Dimension Rühmannschen Volkshumors: der Aggressivität.

Noch ein zweites Beispiel dafür, wie Verhoeven (der mit dem Schauspieler lange wegen des Films Kontakt hatte und ihn voll für die Rolle gewann) in einer nachgerade idealtypischen Rühmann-Szene humorige Sentimentalität in witzige Selbstbehauptung überführt. Alfred steht am Kiosk und mampft eine Bockwurst. Hinter ihm eine "bürgerliche" Frau mit Hund, die dem abgerissenen alten Mann ganz neutral begegnet. Alfred hat die Wurst verspeist und steht mit fetten Händen da, keine Serviette. Er schaut sich ratlos suchend um. Früher wäre das Publikum nun nach zwei Möglichkeiten bedient worden:

a) Rühmann wischt die Hände am Schmuddelmantel ab und geht melancholisch lächelnd seiner Wege (mitfühlendes Schmunzeln im Publikum).
b) Rühmann hält dem Hund die Hände zum Ablecken hin (Schluchzen im Publikum, vereinzelte Lacher).

Verhoevens Version: Rühmann tritt zum Hund, redet ihn freundlich an, krault ihn an den Ohren und putzt sich dabei sorgsam an demselben die Hände ab, ganz selbstverständlich. Dann zieht er weiter, und weder Kamera noch Darsteller haben von dieser Szene sonderlich Aufhebens gemacht.

Aus vielen derartigen Episoden setzt sich "Gefundenes Fressen" zusammen. Der Zuschauer erfährt dabei viel über eine "Randgruppe" unserer Gesellschaft, ohne daß deren Angehörige zu billigen Spaßen herhalten müssen oder zur sozialkritischen Demonstration dienen. Rühmanns Alfred ins Obdachlosenasyl begleitend, unter die Brücken und in die Parks, zum Ladendiebstahl oder ganz einfach auf Tour, begeben wir uns mit ihm: zu uns; und dies nicht auf der sonnigen Seite der Straße.

Aber der Film lebt nicht nur von und mit Alfred. Er wird ebenso sehr getragen von Erwin. Das ist Mario Adorf. Und wieder gelingt Verhoeven das Kunststück, einen in Klischees festgeklebten Darsteller loszulösen, ohne ihn aus der bisherigen Rolle fallen zu lassen. Erwin ist ein Polizist, der im Entwicklungsstadium eines rauhbauzig-naiven Jünglings steckengeblieben ist. Er schwadroniert von der Karriere als Kriminaler und fährt, den Stachel der Gefahr auf langweiligen Streifenfahrten künstlich lockend, mit Blaulicht und Sirene zur Brotzeit und zum Hemdendienst. Er schimpft auf die Polizeibürokratie.

Aber damit hat sich"s nicht: er widersetzt sich ihr, ganz persönlich. Zum Stadtstreicher Alfred, den er zufällig beim einsamen Kneipenbier kennenlernt, knüpft er eine lockere, doch für diesen wichtige, eine auf jeden Fall gänzlich unsentimentale, dafür aber herzliche Beziehung. Er läßt ihn bei einer nächtlichen Penner-Razzia laufen, schlägt eine Anzeige nieder und bezahlt eine Strafe aus eigener Tasche. Weder erfahren wir in wohlgesetzten Worten, warum Erwin das tut, noch teilt Erwin dem Alfred sich so richtig mit. Aber wir begreifen sehr wohl: Hier stecken zwei im Abseits zusammen. Einer, der sich ganz draußen hält; und einer der sich in die Anpassung preßt, bis zum Platzen.

Erwin bewundert insgeheim die große innere Unabhängigkeit des alten .Mannes; Alfred zieht es uneingestanden in die doch noch irgendwie geordnete, familiär-wärmende Welt des Jüngeren.

Doch da nimmt Verhoevens Film (Drehbuch von ihm selbst, Elke Heidenreich und Bernd Schroeder) dem Rühmann-Publikum schon wieder ein paar Illusionen, ohne es mit rosa Verulkung zu entschädigen: der verheiratete, der sympathische Erwin tritt zu Hause bei Frau und Sohn als brutaler Patriarch auf, läßt seine allgemeine Unzufriedenheit, sein ihm bei aller Angeberei drohend aufdämmerndes "Versagen" diejenigen miterleiden und ausbaden, die in privater und ökonomischer Abhängigkeit zu ihm stehen. In diesem ebenso klumpigen wie differenzierten Erwin haben Verhoeven / Adorf ein Menschenporträt gezeichnet mit vielen Widersprüchen (die nicht in seiner Person allein begründet liegen, sondern in ihrer "Außensteuerung" auch kenntlich gemacht werden), das im jungen deutschen Film in dieser episodisch realistischen Genauigkeit Seltenheitswert besitzt. Nicht immer ganz so unaufdringlich gelungen, vervollständigt der Film dieses Männer-Duo um eine jugoslawische Gastarbeiterin (eine Laiendarstellerin, die sich weitgehend selber spielt) zur bundesrepublikanischen Außenseiter-Trias, in deren Rissen, Schrunden, Brüchen und Verwerfungen wir die Schichtungen unserer Gegenwart erkennen.

Michael Verhoeven ist nach viertel- oder halbwegs mißratenen Versuchen in dieser Richtung ("Ein unheimlich starker Abgang", "MitGift") eine Komödie gelungen, eine deutsche Filmkomödie mit Heinz Rühmann, in der wir über uns und Unsresgleichen nicht blind hinweglachen, die vielmehr unserem Lachen Anerkennung beimengt, Selbstbehauptung und Trotz. Ein Lachen, das nicht einlullend die Schwäche bestärkt, sondern Mut machen kann. Wie wir es zuletzt (und eigentlich zum erstenmal) im zeitgenössischen bundesdeutschen Kino in "Lina Braake" hörten. Im "Gefundenen Fressen" lacht sich"s mindestens so gut.

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