Carmen

Deutschland 1918 Spielfilm

Carmen


Egon Jacobsohn, Der Kinematograph, Nr. 628, 15.1.1919


(...) Fürwahr! es handelt sich hier um einen deutschen Film, der weit über die bisher üblichen Durchschnittsmachwerke hervorragt. Das sechsaktige Drama hält sich an den Text der Erzählung, die durch Bizets Oper wohl als bekannt vorausgesetzt werden darf. Das feurig bewegte Liebesabenteuer zwischen der schönen, leidenschaftlichen Tabakarbeiterin und dem schmucken Almonzo-Dragoner tritt selbstverständlich viel eindrucksvoller, schärfer und packender im stummen Film hervor als in der Oper, bei der doch vor allen Dingen das Werk Bizets das Hauptaugenmerk auf sich lenkt. (...)

Man vermeide einen Vergleich zwischen der Bühnenoper und dem Film "Carmen". Beide arbeiten mit anderen Mitteln für einen anderen Sinn. Was das Leinwanddrama dem Auge bieten kann, zeigt es in verschwenderisch-schönen Bildern. Das ist es eben, was den meisten deutschen Filmwerken bisher fehlte und seinen Konkurrenzkampf mit den Kinoerzeugnissen derer drüben über dem großen Teich so erfolgsaussichtslos macht! Durch großzügige Bilderpracht ist der deutsche Spielfilm für das Ausland konkurrenzfähig zu erhalten. Und was für malerisch-schöne, stimmungsvolle Szenen bietet dieser Carmenfilm! Abgesehen davon, daß Lubitsch mit seinem Stabe den hispanischen Zauber in Tempelhof und Rüdersdorf durch deutsche Malerhand und Schneiderschere erstehen ließ, sind die Bilder von imponierender Herrlichkeit.

Man täte den unsichtbaren Kräften, die bei dem Film mitgewirkt haben, bitter Unrecht, wenn man bei einer Beurteilung nicht ihrer gedächte. Da ist der Spielleiter Ernst Lubitsch, der nun endlich seinen eigentlichen Beruf gefunden zu haben scheint. Daß er mit seinen früheren darstellerischen und schriftstellerischen Darbietungen auf einen Teil der Kinobesucher wegen seines vergröberten Herrenfeldstils nicht gerade erfrischend gewirkt hat, habe ich ihm (leider) schon bei verschiedenen Gelegenheiten an einer anderen (mehr dem großen Publikum zugänglichen) Stelle zurufen müssen. Wenn ich mir nun auch nicht etwa einrede, daß meine Ermahnungen diesen Umschwung in Lubitschs Tätigkeit veranlaßt haben, so notiere ich dennoch mit Genugtuung, daß er von selbst aufgehört hat, in weiten Kreisen des deutschen Publikums gewisses Ärgernis zu erregen ... Desto erfreulicher ist nach all dem was bisher vorgefallen ist, daß Lubitsch gleich mit seinem ersten größeren Schlag einen so einwandfreien, von keiner Seite bestrittenen Erfolg feiern durfte. (...)

Jetzt zu der Darstellung. Es ist selbstverständlich, daß sie der Güte der anderen Leistungen vollwertig gleichkam. Als erste: Pola Negri. Seit sie als Stern im Ufahimmel aufgeleuchtet ist, wird ihr Licht immer heller und blendender. Hatte man sie noch bis vor kurzem nur in unerquicklichen Rührkitschereien über sich ergehen lassen müssen, so unternimmt die Negri jetzt alle Anstalten, mit einer ununterbrochenen Reihe ernst zu nehmender Werke die Regententhrone der anderen Kinoköniginnen, wenn auch nicht gleich zu stürzen, so doch gehörig ins Wanken zu bringen. Tatsächlich hat sie äußerlich wie mimisch alle Möglichkeiten, um eine Carmen nach dem Rezepts Mérimées zu schaffen. Man glaubt ihr, daß man sich in acht zu nehmen hat, wenn sie liebt; daß sie dem Himmel, dem Eisen, dem Feuer trotzt und daß sich ihr Blut brausend in ihren Adern hebt. Sie tanzt mit Charme und Grazie; kokettiert mit ihrer Zähnenperlenkette und läßt ihre Augen flitzen, daß es eine Freude ist. Man muß unwillkürlich an das Liedlein denken: "Die Polin hat von allen Reizen". Pola Negri verwandelt eben unmerklich die liebestolle Spanierin in eine feurige Polin.

Ihr Partner ist der Schwarm der Berliner Damenwelt, der – wie es so naiv im Textbuch heißt – "frische Knabe" Don José = Harry Liedtke. Er beweist wieder einmal, daß sein Talent bisher auf falschem Gebiet ausgenutzt worden war. Liedtke vermag viel mehr, als dauernd nichtssagende, schicke Schürzenstürmer und Allerweltslebemänner auf die flotten Beine zu stellen. (...)

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