Carmen

Deutschland 1918 Spielfilm

Carmen


Lichtbild-Bühne, Nr. 51, 21.12.1918


(...) In den 2000 Metern dieses Films ist nicht eine Szene, die nicht durch ihr pulsendes Temperament mitreißt, ist nicht eine Bewegung, die nicht stilvoll den Charakter nachzeichnet, nicht eine Begegnung, in der nicht feinster, künstlerischer Esprit glitzert. Mit dem starken Willen, die den großen Regisseur auszeichnet, hat er die Kräfte seiner Mitwirkenden taktvoll dem Gesamteindruck untergeordnet, hat er sie begrenzt, um das Gesamtbild wirken zu lassen, hat er jeden Einzelnen aufgestachelt, sein Letztes und Bestes zu geben, um den Film, um das Ensemble von stärkster menschlicher Leidenschaft getragen erscheinen zu lassen. Wir haben Pola Negri und Harry Liedtke auch in anderen Films gesehen: aber die Meisterleistungen, die gestern das Publikum erschütterten, zu demonstrativem Beifall hinrissen, zeugen davon, daß ihre Darstellungskunst von einem Willen bestimmt wurde, der allein von dem genialen Regisseur ausgehen konnte, der sie aufstachelte, hemmte, hinwies: von Ernst Lubitsch.

Pola Negri hat sich mit der Darstellung der Carmen endgültig in die Spitzengruppe der deutschen Filmkünstler eingefügt. Die natürliche Leidenschaft ihrer Rasse lohte wild in den Liebesszenen auf, immer bewältigt von dem feinen Kunstgefühl für das, was im Film erlaubt und wirksam ist. Unvergeßlich, wie sie vor Don José tanzt, wie ihr Körper eine einzige rhythmische Bewegung ist, wie ihre Augen vor Verlangen und Sinnlichkeit leuchten, wie sie voll schelmischer Koketterie mit dem alten Kerkermeister charmiert und nicht minder unvergleichlich, wie sie die Bande um den armen Don José immer enger und enger spinnt. Die ganze Skala menschlicher Ausdruckskunst spiegelt sich in Carmens Schicksal und man kann von Pola Negri nichts größeres sagen, als daß sie mit nie versagendem Temperament allen Forderungen gerecht wurde, und sich zu keiner Bewegung hinreißen ließ, die die Linie des Kunstwerkes gestört hätte.

Kam die Aktivität der Rolle dem starken Temperament Pola Negris entgegen, so hat Harry Liedtke mit der Bewältigung der sehr schwierigen, meist passiven Rolle des Don José ein vollendetes Meisterwerk geliefert. Don José ist ein Opfer von Gewissenskämpfen und, da man die Seele schwer photographieren kann, andererseits aber Erregungen dieser Art keinen heftigen körperlichen Ausdruck finden, so muß mit darstellerischen Mitteln gearbeitet werden, deren Wirkung auf seelischem Takt und zu Herzen gehender Ausdruckskunst aufgebaut sind. Man kann Harry Liedtke zum höchsten Lobe sagen, daß er ein Aufgebot von psychologischen Darstellungsmitteln zur Verfügung hat, die seine Leistungen in meisterliche Höhe heben. Als er von Carmens Sinnlichkeit bedrängt den Weg des Rechts verläßt, als er Dolores treulos wird: da ging von diesem, leidenden, seelisch zerrissenen Menschen ein Hauch des Leidens aus, der die Zuschauer überwältigte. Nie hätte man geglaubt, daß Harry Liedtke, dieser geborene Held amüsanter Salonstücke, fähig ist, so tiefgehendes Leiden in menschlicher und künstlerischer Echtheit zu verkörpern. Nach diesem Don José wird man auch Harry Liedtke zu den größten Menschendarstellern im Film rechnen müssen. (...)

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