Beschreibung einer Insel
Konfrontation zweier Kulturen
Winfried Günther, Frankfurter Rundschau, 03.05.1980
Einen "ethnographischen Spielfilm" verheißt die Ankündigung völlig zu Recht, einen narrativen, fiktionalen Film also, der mittels der ethnographischen Methode gedreht worden ist. Fünf Leute, vier Frauen und ein Mann, kommen von Europa nach Ureparapara, einer Insel der Neuen Hebriden, um dort ein halbes Jahr zu leben und für ein geplantes Buch Material aller Art über die Insel und deren Einwohner zu sammeln, und der Film beschreibt nun nicht nur diese Insel und ihre Bewohner, sondern zuvörderst die Schwierigkeiten, die die Besucher untereinander und mit ihrer Aufgabe haben. Die Situation, in der sich die fünf im Rahmen der Fiktion befinden, ist die nämliche, die sie auch in der Wirklichkeit für die Realisierung des Films durchlebten; auf dieser Koinzidenz fußt die Verfahrensweise des Films, sich offenzuhalten für mögliche Entwicklungen und Bedeutungen. Die Begriffe Dokumentarisches und Fiktives verlieren im ethnographischen Spielfilm endgültig ihren abgrenzenden Sinn.
Die Bewohner der Insel bleiben dem Zuschauer fremd, so ausgiebig der Film auch im Verlaufe seiner mehr als drei Stunden ihre Tätigkeiten, Überlieferungen und Gebräuche beschreibt. Meist werden lange Sequenzen, die einer solchen Beschreibung gewidmet sind – seien es vor der Kamera vorgeführte Verrichtungen, seien es Erzählungen einzelner Personen –, gefolgt von Gesprächen der angereisten Amateurforscher über den betreffenden Themenkomplex, welche zwar den Sachverhalt irgendwie zu benennen versuchen, aber in keiner Weise zu dessen Klärung beitragen. Im Gegenteil insistiert der Film vielfach auf der Fremdheit zwischen den Kulturen, und für diese könnte keine andere Szene so sehr beredtes Zeugnis ablegen wie die ebenso lange wie spannende Sequenz, in der sich die Koregisseurin Cynthia Beatt von einem Einheimischen das Tamatsystem erklären zu lassen versucht; eine Sequenz, die zu einem prägnanten Essay über die Mühsal der Verständigung gerät.
In dieser sinndefizitären Situation wird sich die Gruppe nichtprofessionalisierter Wissenschaftler mit all ihren Binnenproblemen und ihrem Verhältnis zur neuen Umgebung immer mehr selbst zum Gegenstand. Was schon in "Made in Germany und USA" und "Tagebuch" gezeigt wurde, den beiden vorangegangenen Filmen Rudolf Thomes, welche mit der gleichen Methode eine Berliner "Scene" explorierten, setzt sich hier bis in die Südsee fort, und die Inselwirklichkeit fungiert dabei als ein Verfremdungsmittel. Den endlosen und geschwätzigen Beziehungsdiskussionen der vier Deutschen läßt der Film die gleiche unaufdringliche und konkrete Aufmerksamkeit zuteil werden wie seinen übrigen Motiven, und wer diese Beziehungsgespräche für unrealistisch oder komisch hält, der hat jedenfalls noch nie im "Basalt-Eck" gesessen und eine Unterhaltung seiner Tischnachbarn mit anhören müssen. Alternativler mit der Sehnsucht nach dem anderen Leben dürfen sich in diesem Film gleichzeitig vertreten und verraten fühlen.
Wie es einer nur wenig im voraus planbaren, on location hergestellten Fiktion zukommt, bewahren sich alle gezeigten Details eine eigene Bedeutung, welche nicht in einem vorgeordneten Handlungs- oder Sinnzusammenhang aufgeht. Es ist der quasi neutral registrierende, seltsam teilnahmslose, sich nicht etwa die Perspektive der Protagonisten zu eigen machende Gestus des Films, der solches bewirkt. Die "Beschreibung einer Insel" enthält keinerlei Höhepunkte mehr und auch nichts Nebensächliches, sondern die vielen Einzelheiten machen zusammen die Hauptsache aus. Deshalb ist es auch in der hier gebotenen Kürze nicht möglich, etwas von der Reichhaltigkeit dieses Films zu vermitteln; man müßte an einzelnen Sequenzen beschreiben, woher der Eindruck seiner großen Konkretheit und Genauigkeit rührt.
Engagement und Darstellungshaltung der beiden Regisseure manifestieren sich allein in der filmischen Struktur, der Wahl der Bildausschnitte etwa oder der Aufeinanderfolge der Einstellungen. Der Blick der Kamera bleibt statisch, selbst wenn sie sich bewegt, und die Kadrierung erfolgt oft derart, daß die einzelnen Bilder wie eingerahmt wirken. Obwohl die Szenen teilweise nach klassischem Muster in einzelne Einstellungen aufgelöst sind, werden die Schnitte nie "unsichtbar"; sie bleiben immer im Bewußtsein und trennen die Einstellungen eher, als daß sie sie verbinden. Dieser demonstrierende Gestus – das Gegenteil von Cinéma-Vérité – , welcher sich dem Beschriebenen unterordnet und es gleichzeitig akzentuiert, bewirkt die Gesammeltheit und konzentrierte Kraft, die dem Film eignen, und aktiviert den Blick auf die dargestellte Realität.
© Winfried Günther