"U-Bahn Westberlin" (1985) von Leonore Poth – Alltag in Linie 1
1977 richtete die Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main einen Bereich Trickfilm ein, zwei Jahre später fanden erste Filmseminare statt. Ziel war es, "durch die Herausarbeitung einer persönlichen Haltung des Studenten zum Film, einer Reflektion der geschichtlichen Entwicklung, der handwerklichen Normen und Standards, [...] eine kritische Auseinandersetzung mit der Medienlandschaft" zu entwickeln und den Studierenden eine "Robustheit für spätere berufliche Anforderungen" mitzugeben. Im Mittelpunkt der Ausbildung stand die "persönliche Herangehensweise und Erarbeitung von handwerklichen Grundlagen." (Filmklassen 1986)
Als Leonore Poth von 1978 bis 1986 in Offenbach studierte, gab es noch keine Trickfilmklasse, und so durchlief sie die verschiedenen Abteilungen, blieb bei Malerei und Zeichnung und schließlich beim Animationsfilm hängen. Der rund 12minütige Animationsfilm "U-Bahn Westberlin" von 1985 ist ihr Diplomfilm im Bereich "Visuelle Kommunikation".
Die Hochschule verfügte über einen 16mm-Crass-Tricktisch, Schneidetische sowie ein kleines Tonstudio. Trickfilmlehrer war Horst Erlitz, Leiter der Wetterkartenherstellung beim Hessischen Rundfunk – diese animierten Karten wurden täglich neu als Trickfilm auf 16mm-Umkehrfilm aufgenommen und abends in der Tagesschau live eingesprochen gesendet.
Während des Studiums hatte Leonore Poth Gelegenheit, viele Filmklassiker der 1920er Jahre zu sehen, wie "Das Cabinet des Dr. Caligari" (D 1920, R: Robert Wiene), "Der Mann mit der Kamera" (SU 1929, R: Dziga Vertov) und nicht zuletzt die Kurzfilme von Fernand Léger, Hans Richter, László Moholy-Nagy und Oskar Fischinger. Besonders faszinierten sie die frühen Cartoons mit Felix the Cat und die ersten Micky-Mouse-Filme wie "Steamboat Willie" (USA 1928) – eine Zeit, als im Animationsfilm noch viel experimentiert wurde. Sie schätzte auch die Trickserie "La linea" (IT, ab 1969) von Osvaldo Cavandoli, die Zeichenfilme von Loriot und die grafischen Filme von Helmut Herbst, der 1985 als Filmprofessor an die Hochschule kam. Bei den Stuttgarter Trickfilmtagen knüpfte sie zudem Kontakte zu anderen Studierenden im Bereich Animationsfilm.
Der erste Animationsfilm von Leonore Poth war "Donna Mobile" (1983), eine Gemeinschaftsarbeit mit Ruth Becht und Margit Weber. Der knapp zweiminütige Zeichenfilm spielt in einer Frauen-WG, in der sechs nackte Bewohnerinnen herumliegen, hüpfen, fliegen, schaukeln, trinken und rauchen. In ihrer Semesterarbeit "Offenbach" bündelt sie ein Jahr später Alltagsbeobachtungen und hebt den Lebensrhythmus der Stadt ins Großstädtische. Anlage und Konzeption sowie die Verbindung von Lege- und Zeichentrick und ein komplex montierter Soundtrack führen bereits zu dem ein Jahr später entstandenen Film "U-Bahn Westberlin".
Quelle: Leonore Poth, © Leonore Poth |
Hundefrauen in der U-Bahn |
Der Film. 1984 absolvierte Leonore Poth ein Gastsemester an der Hochschule der Künste in Berlin in der Malklasse von Professor Marwan Kassab-Bachi. Sie wohnte damals in Neukölln und fuhr regelmäßig mit der Linie 1 vom Kottbusser Tor zum U-Bahnhof Zoologischer Garten. In dieser Zeit machte sie zahlreiche Skizzen zu täglichen Situationen u.a. zu den Erlebnissen in der U-Bahn. Die Zeichnungen zu "U-Bahn Westberlin" entstanden nicht auf Folie, sondern auf gelochtem Büropapier. Um die Blätter deckungsgleich zu halten, baute sich Leonore Pohl eine eigene Halteschiene. Der auf 16mm Farb-Umkehrmaterial aufgenommene Film wurde beim Hessischen Rundfunk entwickelt; der Ton ist Magnetton. Uraufführung war am 3. Februar 1986 bei den 3. Internationalen Stuttgarter Trickfilmtagen.
"U-Bahn Westberlin" von Leonore Poth ist "cinema povera", ein Kino, das mit einfachen Mitteln in einem Prozess des praktischen Experimentierens und zeichnerischen Tastens künstlerischen Ausdruck schafft. Der Film vermittelt mit wenigen Strichen und reduzierten Animationstechniken Atmosphäre und Typisches einer Fahrt mit der Berliner U-Bahn Mitte der 1980er Jahre. Lose angelehnt an Walter Ruttmanns "Die Sinfonie der Großstadt" von 1927 folgt "U-Bahn Westberlin" einem Tagesablauf in der Linie 1, die damals vom Schlesischen Tor nach Ruhleben fuhr. Der gelbe Blitz der Hochbahn jagt als Papierstreifen durch die noch menschenleere morgendliche Stadt. Auf dem Weg zur Arbeit schieben sich die Menschen in die Bahn, wo sie hinter ihren Zeitungen unsichtbar werden. Ein BILD-Leser – die Schlagzeile in roten Lettern verkündet: "Birne denkt!" – sitzt neben einem Türken, der eine Gebetskette durch die Finger gleiten lässt. Ältere Frauen – an die "Wilmersdorfer Witwen" aus dem Musical "Linie 1" (1986) von Volker Ludwig erinnernd – halten sich krampfhaft an ihren Handtaschen fest. Eine alternativ gekleidete junge Frau strickt an einem breiten Schal, eine andere liest in einem Buch. Ein schriller Punk mit Begleitratte auf der Schulter setzt sich provokativ breitbeinig hin und leert laut rülpsend eine Bierdose.
Ein großer Hund scheint den Frieden in der Bahn zu stören, freundet sich dann aber mit einem Schoßhündchen an. Aufgeregte amerikanische Touristen erkundigen sich nach dem Weg. Zwei junge Frauen – ihre Zeichnung erinnert an die Arbeiten von Claire Bretécher – kichern und lachen, ein Liebespärchen knutscht und knüllt sich zusammen. In einem U-Bahnhof grummelt ein obdachloser Alkoholiker vor sich hin. Ein elegantes Pärchen gemahnt an abendliche Vergnügungen. Draußen wird es dunkel. Ein einsamer Straßenfeger dreht seine Runden.
Quelle: Leonore Poth, © Leonore Poth |
Motiv aus dem Exposé zu "U-Bahn Westberlin" |
Der Film von Leonore Poth reiht sich ein in eine kleine Gruppe von künstlerischen Animationsfilmen, die Großstädte und urbanes Leben behandeln. In dem elfminütigen auf Folien animierten Film "Nachtschicht" (1981) von Michael Schaack – sein Abschlussfilm an der Hochschule für Fernsehen und Film, München – kutschiert ein Münchner Taxifahrer extreme Persönlichkeiten durch die Nacht. Der in Sepia-Farben gehaltene Film "Kuća br. 42 / Haus Nr. 42" (YUG 1984, R: Pavao Štalter) animiert eine alte Fotografie und lässt das Straßenleben um 1890 lebendig werden. In dem Film noir "Criminal Tango" (FR 1985) findet eine mysteriöse Verfolgungsjagd in einer von Los Angeles inspirierten Großstadtkulisse statt; die Motive kratzte Solweig von Kleist in 35mm-Schwarzfilm.
"U-Bahn Westberlin" besticht durch die genaue Beobachtung typischer Situationen in der Berliner U-Bahn, die Leonore Poth in einem karikaturhaft-naiven Stil wiedergibt. Präzise gesetzte Farbakzente verstärken Einzelszenen. Im Legetrick ausgeführt sind u.a. das gelbe Band der U-Bahn auf der Hochbahnstrecke, der Strom der Fahrgäste in der morgendlichen Rushhour und die Ausblicke aus der fahrenden Bahn. Die mit Bleistift gezeichneten Elemente beschränken sich auf markante, aber eindeutig wiederkennbare Elemente, wie etwa ein rotes Quadrat als Zeichen für die BILD. Umrisse und Schraffierungen heben Charakteristisches hervor. Einige Szenen kombinieren auch Lege- und Zeichentrick. Von Berlin ist nur die sich komplex auftürmende Häuserkulisse zu sehen, durch die das gelbe Band der U-Bahn schießt. Schwenks über die Großstadtkulisse verstärken hier den Eindruck einer Fahrtbewegung.
Quelle: Leonore Poth, © Leonore Poth |
Lachanfall in der U-Bahn |
Den Soundtrack montierte Leonore Poth aus Originalaufnahmen der U-Bahn, Schnipsel von Radiosendungen etwa des amerikanischen Soldatensenders AFN sowie mit Freunden und Bekannten aufgenommene Sprachfetzen, die sie zum Teil rückwärts abspielte. In anderen Sequenzen verdichtete sie die akustische Ebene durch die Mischung von Fahrtgeräuschen und Musik. "Der Faktor Zeit wurde so eingesetzt, dass die Ödheit des Sitzens und Wartens, ebenso das Transportiertwerden, spürbar wird." (Filmklassen, 1986)
Die typischen Fahrtgeräusche der Berliner Untergrundbahn werden durch ruhigere Momente des undefinierbaren Großstadt-Grummelns rhythmisiert. Später folgen Stationsdurchsagen ("Zurückbleiben!" – damals noch ohne "Bitte!") und Türzuschlagen. Zu den BILD-Lesern ("Birne denkt!") sind Ausschnitte aus Reden von Helmut Kohl zu hören, die im U-Bahn-Geratter weitgehend untergeht: "... Millionen Arbeitslose ... Terror der Straße den inneren Frieden des Landes zerstören ..." Die Hunde kläffen sich an, zu den Touristen erklingen Tonschnipsel mit amerikanischem Tonfall, während eine kleine Micky Mouse auf dünnen Beinchen durch den Gang tänzelt – eine Hommage an die ersten Entwürfe der Figur. Das wirre Selbstgespräch des Betrunkenen verliert sich im Stimmengewirr, das Platz macht für den stimmungsvollen Blues "Trouble in Mind", der sich über den Soundtrack der U-Bahn legt und eine abendlich-gepflegte Bar-Atmosphäre aufruft. Irgendwo scheppert eine leere Dose. Es ist Nacht geworden in Berlin.
Für freundliche Auskünfte danke ich Leonore Poth.
Leonore Poth lebt und arbeitet freiberuflich als Zeichnerin, Grafikerin und Animationsfilmerin in Frankfurt am Main.
https://leonore-poth.de
Literatur
Claudia Prinz: Trick, Talent und Vielseitigkeit. Ein Porträt der Zeichentrickfilmerin Leo Poth. In: GRIP 30/2004, S. 12-13.
https://www.filmhaus-frankfurt.de/en/grip/grip-30/trick-talent-und-vielseitigkeit/
"Kuća br. 42 / Haus Nr. 42" (YUG 1984, R: Pavao Štalter)
https://www.youtube.com/watch?v=Hjx9xrSYnmA (23.10.2024)
"Criminal Tango" (FR 1985, R: Solweig von Kleist)
https://www.solweigvonkleist.info/pages/3_films_danimation-3578753.html (23.10.2024)
Filmklassen. Frankfurt, Offenbach, Kassel, Mainz. Informationsschau. Darmstädter Studentenfilmetage 1986
https://hfgfilm.de/archiv/hfg-filme-seit-1983-films-made-at-hfg-since-1983/ (23.10.2024)
Jeanpaul Goergen, November 2024