Berlin – Ecke Schönhauser…
B. Dalichow, Film und Fernsehen, Berlin, Nr. 6, 1992
(…) "Berlin – Ecke Schönhauser…" beginnt mit einem Rundschwenk über die Kreuzung, an der sich U-Bahn, Straßenbahnen, Autos und Menschen begegnen. Der Schwenk ist von romantischer Orchestermusik mit starken Bläsergruppen untersetzt und könnte aus einem Dokumentarfilm stammen. Der Autor Wolfgang Kohlhaase, der später vor allem für Konrad Wolf und Frank Beyer schrieb, und der Regisseur Gerhard Klein waren von den Filmen des Neorealismus aus Italien beeindruckt. Sie wollten keine stilisierten Filmbilder schaffen, sondern wie die Italiener ungeschminkte Wirklichkeit zeigen. In der Rückschau sind es gerade die Realitätspartikel, die an Heimat DDR in den 50er erinnern: die abgetragenen Hemden, die quietschenden gelben Straßenbahnen mit "Konsum"-Werbung, der Schriftzug "Demokratischer Sektor von Groß-Berlin", Gesten und Gesichtsausdrücke, die aus einer vergangenen und dennoch vertrauten Welt stammen. (…)
Klein/Kohlhaase warben mit ihrem Film dafür, die Lebensweise junger Leute, ihre Vorlieben, ihre Musik, zu tolerieren, denn das war in der DDR keineswegs selbstverständlich. (…)
Die negativen Figuren des Films sind Westberliner Kriminelle, die Eltern von Karl-Heinz und zunehmend Karl-Heinz selbst, der mehr und mehr unter schändlichen Einfluß gerät und gerade deshalb verhängnisvoll scheitert. Der Film entstand während des Kalten Krieges und zeichnet ein Schwarz-weiß-Bild, das mit der offiziellen DDR-Politik übereinstimmte. Doppelt seltsam klingen uns heute die Worte von Karl-Heinz" Vater in den Ohren: "Dieses ganze System wird zusammenbrechen. Deutschland ist schließlich nicht Asien." (…)
"Berlin – Ecke Schönhauser…" erinnert mich an meine Kindheit. Es ging bescheiden, fast ärmlich zu. Leider hat der Sozialismus so gut wie nichts dazu beigetragen, aus der Not der Begrenzung natürlicher Ressourcen die Tugend der langlebigen, solide geformten Dinge und einer entsprechenden Lebensweise zu machen – aber darüber dachte ich erst viel später nach. "Berlin – Ecke Schönhauser…" zählt zu den freundlichen Beispielen für die Appellfunktion der Kunst, mit der wir aufwuchsen. Wir wurden von Gedichten Liedern, Texten, Filmen, Bildern und Theaterstücken, von Lehrern, Eltern und Spruchbändern ständig aufgefordert, besser zu sein als wir waren. "Berlin – Ecke Schönhauser…" wirbt dafür auf dem Weg des Sozialismus auch diejenigen mitzunehmen, die an den Ecken stehen, fordert auf, ihre Lebenslage zu verstehen und behutsam mit ihnen umzugehen. Heutzutage schreit man nach Jugendamt und Polizei, darüber hinaus bewaffnen sich die Bürger mit Reizgas. Steine fliegen gegen die Köpfe von Fremden statt gegen Laternen – aus diesem Blickwinkel erscheint "Berlin – Ecke Schönhauser…" wie ein Märchenfilm aus besseren Zeiten. Jeder, der es wissen will, weiß, daß die DDR mit unangepaßten jungen Leuten oft unmöglich umging. Aber wie bei Kohlhaase/Klein und bei den erregten Diskussionen um ihren Film, gab es immer wieder Anstrengungen, dies zu ändern. Die Wiederbegegnung mit unseren alten Filmen regt auf. Positive und negative Gefühle … Erinnerungen und Gedanken an vertane Chancen und gelebtes Leben …