Berlin im Halbdunkel. Jeanpaul Goergen über "In der Dämmerstunde – Berlin" (1980/1981) von Annik Leroy
Annik Leroy gab ihrem 1980/1981 entstandenen abendfüllenden Berlin-Film einen Doppeltitel: "In der Dämmerstunde – Berlin" und "Berlin – De l'aube à la nuit", von Tagesanbruch bis zur Nacht. Gleich zu Beginn erklingt das Lied "Oh Mensch, gib acht. Was spricht die tiefe Mitternacht?" aus Gustav Mahlers 3. Symphonie nach einem Text von Friedrich Nietzsche. Damit ist der Grundtenor des Films angestimmt: Morgen- und Abenddämmerung, Nacht, gar Mitternacht tauchen Berlin in eine trübe Unbestimmtheit.
"In der Dämmerstunde – Berlin" ist der erste Langfilm der 1952 in Brüssel geborenen Fotografin und Regisseurin. Nach ihrem Studium an der École Nationale Supérieure des Arts Visuels de La Cambre in Brüssel arbeitete sie als Photographin und stellte in Paris und Brüssel aus. Zwischen 1974 und 1977 drehte sie vier Kurzfilme – unabhängige Produktionen, die ihre Auseinandersetzung mit Stadträumen und ihre Sensibilität für die Tonebene des Films ebenso belegen wie ihre kritische Kommentierung der Gegenwart.
Nach West-Berlin kam Leroy zum ersten Mal Ende der 1970er Jahre, um Videoaufnahmen bei einer Performance belgischer Künstler im Café Einstein zu machen. Nach mehreren Kurzbesuchen kehrte sie mit einer 16mm-Kamera zurück; alle Aufnahmen entstanden im Zweier-Team mit ihrem Tonmann Alain Marchal. Im Gepäck hatte sie außerdem das 1976 erschienene Buch "Berliner Requiem" von Jean-Michel Palmier. Der französische Schriftsteller hatte sich 1974 als Stipendiat des Deutschen Akademischen Austauschdienstes in Berlin aufgehalten, um die Avantgarden der Weimarer Republik zu erforschen. Berlin erlebte er als einen Ort zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Schatten und Nacht, in dem die künstlerische Szene der Zwanziger Jahre und deren Visionen nachhallten und Imagination und Wirklichkeit zusammenflossen. In diesem Geist wandelt auch Annik Leroy durch eine Stadt, die im Halbdunkel liegt: "Ich habe sehr viel morgens fotografiert, sehr früh, dann ab vier oder fünf Uhr nachmittags, als es langsam dunkel wurde. Ich wollte unbedingt Berlin im Winter filmen. Für mich ist es eine Stadt der Kälte, des Nordens, des Schnees." (Leroy, 1983) Als Vorbilder nennt sie Maya Deren, Jonas Mekas und Helke Sander.
In diesem Schwarz-Weiß-Film liegt die Stadt unter einem diesigen Schleier. Die Regisseurin stellt sich uns als einsame Spaziergängerin vor, eine Wanderin, festen Schrittes, aber ohne erkennbare Ziele, gebeugten Hauptes, nicht schlendernd, nicht flanierend, eher mechanisch sich fortbewegend, wie eine Stalkerin, eine nur ihr bekannten Logik folgend – ortsfremde Kundschafterin in einer unbekannten Welt, am Rande der Wege. Stoisch stapft sie durch verharschten Schnee, huscht an der Berliner Mauer vorbei, taucht ein in einen Hinterhof und stromert durch die fast leere Halle des Bahnhofs Zoologischer Garten: meist von hinten gefilmt, geisterhaft fast, wandelnd wie aus einer anderen Zeit. Das harte Klacken ihre Absätze halt nach wie der Sekundenschlag einer unerbittlichen Uhr. Ein Film in der ersten Person; objektiver Blick und subjektive Kamera wechseln sich ab und irritieren die Wahrnehmung.
Quelle: Annik Leroy, © Annik Leroy |
"In der Dämmerstunde - Berlin" |
Während Walter Ruttmann 1927 in "Berlin. Die Sinfonie der Großstadt" das Erlebnis der Stadt aus tausenden von Einzeleindrücken mittels Montage zusammenfügte, so ordnet Anik Leroy ihre Berlin-Impressionen, lange und ruhige Einstellungen und Fahrtaufnahmen, als freies Spiel der Assoziationen, als meditative Collage, allerdings und wieder im Gegensatz zu Ruttmann ohne erkennbare Zeitstruktur. Die mehrfach eingeblendeten Datums- und Ortsangaben bilden keine wirklichen Orientierungspunkte und verweisen ebenso wie einige persönliche Einlassungen der Regisseurin eher auf Tagebucheinträge.
Dreizehn Sequenzen, jeweils mit einer Abblende schließend, strukturieren den Film. Wiederkehrende Motive sind U- und S-Bahnzüge, Brachen, der Mauerstreifen, blendendes Gegenlicht, menschenleere Straßen. Annik Leroy filmte vor allem in Moabit, Kreuzberg und im Wedding. Nur wenige Orte lassen sich auf Anhieb erkennen und identifizieren, etwa die AEG-Turbinenfabrik in der Huttenstraße, der S-Bahnhof Berlin-Wilhelmsruh, die U-Bahn-Station Görlitzer Bahnhof und der Bahnhof Zoologischer Garten – mit Ausnahme des Brandenburger Tors und des Fernsehturms allesamt Orte, die nicht im Baedeker stehen. Nur selten kommen Menschen ins Bild, flüchtig, unscharf: ein Passant, Kneipengäste im Dunkeln, spielende türkische Kinder.
Einige Aufnahmen entstanden in einem belebten Ost-Berlin, an der Weidendammer Brücke und in der Oranienburger Straße, wo Leroy die Ruine des späteren Tacheles filmt. Da sie bei ihrem ersten Grenzübertritt mit der 16mm-Ariflex am Drehen gehindert wurde, ja sogar verhaftet und verhört wurde, benutzte sie bei einem weiteren Versuch eine unauffällige Super-8-Kamera.
In ihrem Film verarbeitet die Regisseurin auch persönliche Empfindungen, das Gefühl der Vereinsamung und die Erinnerung an eine kurze Liebesbeziehung. Die erste Sequenz des Films zeigt den Grabstein von Gottfried Benn, der Anfang des letzten Jahrhunderts mit der Dichterin Else Lasker-Schüler befreundet war. Eingeblendete Zitate aus ihren Gedichten verweisen auf diese Verbindung. Auf Benns Gedichtzeile "Keiner wird mein Wegrand sein" (aus dem Gedicht "Hier ist kein Trost", 1912/13) antwortete Lasker-Schüler 1914 in ihrem Gedicht "Höre!" mit "Ich bin dein Wegrand". Karl Jürgen Skrodzki (2001) hat ausführlich über dieses Gedicht geschrieben.
In einem Interview von 1983 erklärte Annik Leroy ihre damalige Gefühlslage: "In Berlin fühlte ich mich körperlich erschüttert. Ich bin unter besonderen Bedingungen dorthin gereist. Ich versuchte, mich von einem ganzen Abschnitt meines Lebens zu befreien. Die Stadt mit ihrer extremen Gewalt ermöglichte mir den Übergang zu einer anderen Lebensform. Ich war damals völlig in mir selbst verschlossen und vermied jeden menschlichen Kontakt und alle Beziehungen zu anderen. Meine einzige Perspektive war die Stadt. Es war eine sehr seltsame, fast romantische Beziehung zu diesem Ort."
Quelle: Annik Leroy, © Annik Leroy |
"In der Dämmerstunde - Berlin" |
Der belgische Kritiker Lucien Halflants ordnete "In der Dämmerstunde – Berlin" 2019 einem "cinéma de l’errance", einem Kino der Irrungen zu: "Die Filmemacherin betrachtet die Stadt so, als würde die Stadt die Frau betrachten und sie zur Selbstreflexion anregen." Das romantische Motiv des Wanderers, des ruhelos Suchenden, der Erkenntnis in der Natur sucht, wird gebrochen durch Leroys Streifzüge durch ein schattenhaftes, von der Vergangenheit gezeichnetes Berlin. Die leeren S-Bahn-Züge rasen an Brandwänden und Brachen vorbei; die Geschichte der Stadt ist in diesen ihren Wunden eingeschrieben. Fahrgäste in der U-Bahn – sie sind nicht zu sehen, nur zu hören – erinnern sich an den Krieg. Ein jüdischer Antiquar spricht aus dem Off über das Verbrechen des Holocaust, argumentiert aber gegen eine deutsche Kollektivschuld.
"In der Dämmerstunde – Berlin" ist auch ein Film des Abschieds. In der vorletzten Sequenz sieht man Annik Leroy in ihrem Zimmer im Hotel Berlin, wie sie ihre Sachen packt. Der telefonische Weckruf meldet die Uhrzeit; es ist halb acht, Zeit zum Aufstehen, Zeit zum Aufbrechen. Auf einem Bett steht ein tragbarer Fernseher, der flackernde Störstreifen zeigt. Geräusche vom Zähneputzen, an der Wand zwei Fotos der Regisseurin. Verstreut: ein Buch, eine Zigarettenschachtel, ein Fotoapparat, ein Stadtplan. Als Untertitel eingeblendet wird der Schluss von Peter Handkes Erzählung "Der kurze Brief zum langen Abschied" von 1972, wie alle Zitate des Films auf Französisch: "Erzählt nun eure Geschichte!" sagte John Ford. Als sie mit unserer Geschichte fertig war, lachte John Ford still, übers ganze Gesicht. Er wurde ernst und drehte sich zu Judith hin. "Und das alles ist wahr?" fragte er auf englisch. "Nichts an der Geschichte ist erfunden?" "Ja", sagte Judith, "das alles ist passiert." Leroy schaltet den Fernseher aus, zieht den Vorhang vor dem Fenster zur Seite und öffnet die Balkontür, so dass die Geräusche der Stadt ins Zimmer strömen.
In ihrem Film schwimmt Berlin auf einem Teppich aus Geräuschen und Sprachfetzen: ein entferntes, kaum vernehmbares Grummeln, das Heulen des Winds, das Kreischen und Rumpeln der Bahnen, Stationsdurchsagen, wirres Stimmengemisch, Kindergeschrei und Kneipensound, Sirenengeheul und aggressiver Baulärm, Metall schlägt auf Metall, Glas splittert, dann herrscht erneut Stille. Neben Gustav Mahler ist auch Richard Wagner zu hören; Leroys damaliger Musikgeschmack umspannte sowohl klassische Musik als auch Punk und experimentelle Musik wie die von John Cage.
"In der Dämmerstunde – Berlin" ist einer der wenigen dokumentarischen Berlin-Filme, die vom Akustischen ausgehen, von der Stadt als Hörerlebnis. "Durchqueren wir eine moderne Großstadt, halten wir unsere Ohren offener als unsere Augen" hatte der italienische Futurist Luigi Russolo 1913 gefordert und aus diesen akustischen Wahrnehmungen eine "Kunst der Geräusche" entwickelt und in einem Manifest niedergelegt. Wie Russolo findet auch Annik Leroy Gefallen daran, mit ihrem Film den Geräuschen der Großstadt, ihrer Bahnhöfe und Bahnen, dem Sound einer Metropole in den Straßen, Hinterhöfen und Kneipen nachzuspüren, sie aufzuzeichnen und zu orchestrieren. Man muss diesen Film mit den Ohren sehen!
Mit bestem Dank an Annik Leroy!
Literatur
- Jean-Michel Palmier: Berliner Requiem. Paris 1976
- Interview von Charles Najman mit Annik Leroy. In: Cinématographe, Paris, Mai 1983, S. 28-30
- Johannes Ullmaier (Hg.): Die Kunst der Geräusche. Luigi Russolo. Mainz 2005
- Lucien Halflants: "In der Dämmerstunde - Berlin de l'aube à la nuit" d’Annik Leroy (4.11.2019). https://www.cinergie.be/actualites/in-der-dammerstunde-berlin-de-l-aube-a-la-nuit
- Karl Jürgen Skrodzki: Else Lasker-Schüler: Höre! (2001) (7.11.2021). https://www.kj-skrodzki.de/Dokumente/Text_005.htm
- Radikal subjektiv, minimal invasiv. Meisterklasse Annik Leroy (2020). https://www.dok-leipzig.de/mediathek-meisterklasse-annik-leroy
Jeanpaul Goergen, Juli 2024