"Die kleine Lok" (BRD 1955) – Bitteres Erlebnis Freiheit
Anfang der 1950er Jahre realisierte Gerhard Fieber mit seiner Firma EOS-Film in Göttingen einige kurze Animationsfilme, deren Handlung sich jeweils um die Eisenbahn dreht – unterhaltsame Kurzfilme als Sympathiewerbung für Reisen mit der Bahn. Auftraggeber war die Filmstelle der Deutschen Bundesbahn, die ein umfangreiches Angebot an Eisenbahnfilmen unterhielt. Ihr kurzer Farbfilm "Die kleine Lok" ist eine "gegenwartsnahe Filmfabel, die in bunten Bildern die Bedeutung selbst einer kleinen Lok für die Verkehrsbeziehungen zwischen Stadt und Land humorvoll schildert." (DB Filmverzeichnis 1955)
Quelle: Jeanpaul Goergen |
Die kleine Lok in Klein-Schnarching (Motiv aus dem Film) |
"Die kleine Lok" entstand 1955 nach dem gleichnamigen Kinderbuch von Graham Greene. Buch und Film schildern die Abenteuer einer kleinen Lokomotive aus Klein-Schnarching, die sich selbständig macht, um die weite Welt zu erkunden und nach einer Reihe von beängstigenden Erlebnissen in der modernen Welt kleinmütig und reuevoll in den betulichen Heimatbahnhof zurückkehrt.
Graham Greene's Kindergeschichte "The Little Train" datiert von 1946. Im Filmvorspann bezieht sich Fieber auf die deutsche Übersetzung von 1953 mit den Illustrationen von Dorothy Craigie, erschienen im Karl Rauch Verlag in Düsseldorf. Fieber übernimmt weitgehend, teilweise sogar wortwörtlich, den Text und orientiert sich auch in der Bildgestaltung an den Originalzeichnungen, so dass man durchaus von einer Verfilmung sprechen kann.
Mit einer Länge von 300 Metern lief "Die kleine Lok" rund elf Minuten; er durfte auch vor Jugendlichen und an Feiertagen vorgeführt werden. Die Filmbewertungsstelle zeichnete ihn mit dem Prädikat "wertvoll" aus. Für den Einsatz in den Kinos verlieh ihn die Filmstelle der Deutschen Bundesbahn auf 35mm und für nichtgewerbliche Vorführungen auf 16mm-Schmalfilm; außerdem gab es englische, französische und spanische Sprachfassungen.
Quelle: Jeanpaul Goergen |
Die Schreckenslandschaft von Qualmhausen ... Entwurfszeichnung von Gerhard Fieber (DFF, Frankfurt am Main) |
Der Film. In "Die kleine Lok" experimentiert Fieber mit einer nicht immer gelungenen Kombination von Zeichenfilm und Sachtrick. Eine männliche Erzählstimme führt durch die Handlung; die kleine Lokomotive meldet sich mit einer Frauenstimme zu Wort. Die täglich zwischen Klein- und Groß-Schnarching pendelnde Kleinbahn ist fleißig, pünktlich und zufrieden, bis sie sich eines Abends in "Träumereien" verliert. Während sich der Bildhintergrund gefährlich rot färbt, klappen charakteristische Stadtansichten wie die Tower Bridge in London und der Fuji Berg in Japan auf. Noch zögert sie, denkt an den freundlichen Lokführer, den sie bei einer Reise verlassen müsste. Schließlich aber siegt die Fernsucht und sie bricht auf, die Welt zu erkunden: "Frei, frei, endlich frei!" Nicht einmal eine auf den Gleisen stehende Kuh, die an ihr Gewissen appelliert – "Wer bringt denn morgen die Kinder zur Schule?" – kann sie aufhalten.
Der Freiheitsdrang der kleinen Lokomotive wird allerdings auf eine harte Probe gestellt. Bereits beim Überqueren einer hohen Brücke fühlt sie sich verloren. Von der langen Fahrt durstig geworden, denkt sie sehnsüchtig an die kleine Wasserpumpe zu Hause zurück, die schemenhaft im Bild auftaucht. Dann klettert sie die "unheimlichen Berge" – ein hochaufragendes, kahles Massiv – hinauf. Voller Angst durchquert sie bei Blitz und Donner diese "schreckliche Einöde".
In der großen Stadt Qualmhausen angekommen, erlebt sie die Schrecken der modernen Zivilisation. In raschen Überblendungen lässt Gerhard Fieber das in giftige Farben getauchte Häuser- und Fabrikmeer einer chaotischen Metropolis vorbeiziehen: "Bald lärmten Hämmer, kreischten Maschinen und die Menschen schrien." Hohe Schornsteine qualmen und hüllen die kleine Lok in einen rußigen Schmutznebel. In einem unüberschaubaren Kopfbahnhof verliert sie inmitten der verwirrenden Anzahl von Gleisen vollends den Kopf. Eine rasche Montage von verschiedenfarbigen Lichtpunkten, sich kreuzenden Gleisen und Signalfarben prasselt von allen Seiten alptraumartig auf sie ein. Schwindlig und voller Angst dampft die kleine Lok im Rückwärtsgang aus diesem Wirrwarr heraus.
Quelle: Jeanpaul Goergen |
Die Moderne als Alptraum (Motiv aus dem Film) |
Bereits Graham Greene hatte die Industriestadt als einen lärmerfüllten, umweltverschmutzten und überbevölkerten Ort geschildert, den die kleine Lok, wie es in der Erzählung heißt, als eine "schauerliche Höhle von bösen Geistern" erlebt. Fieber steigert diese Beschreibung zu einer filmischen Schreckensvision.
Fernab der ländlichen Heimat beklagt die erschöpfte kleine Lok ihr Schicksal. Aber Rettung naht: Der Rheingoldexpress bemerkt den Ausreißer und bremst so stark er kann. Freundlich schiebt die starke Dampflokomotive (Baureihe BR01) sie wieder auf das Nebengleis nach Klein-Schnarching, wo ihr das ganze Dorf einen freudigen Empfang bereitet.
Wie bereits in "Armer Hansi" von 1943 variiert Gerhard Fieber in "Die kleine Lok" das Motiv des Ausreißers, den es in die Fremde hinauszieht und der – nach mal positiven, meist aber nach negativen Erlebnissen – wieder an den heimischen Herd zurückkehrt. In anderen Nachkriegsfilmen für die Deutsche Bundesbahn greift er diese Erzählung wieder auf. In "Ein verbotener Ausflug" (1952) brechen Zootiere aus, um nach einer Bahnfahrt wieder in ihre Käfige zurückzukehren. In "Aus der Art geschlagen" (1953) stiehlt sich ein neugieriger Igel aus seinem Winterquartier und erlebt die große weite Welt der Bahn.
Dank an das DB Museum, Nürnberg
(Februar 2024)
Literatur:
Filmstelle der Deutschen Bundesbahn beim Bundesbahn-Zentralamt Minden (Hg.): Filmverzeichnis. Ausgabe: 1955. Minden (Westf.) 1955