Mein letzter Film
Sex, Lügen und Video
Daniel Kothenschulte, Frankfurter Rundschau, 29.11.2002
Wie weit kann man das Erzählkino reduzieren, und am Ende doch noch einen Film übrig behalten? Um alles – nur nicht um die Schauspieler, sagen die Schauspieler. Als hätte es Micky Maus nie gegeben. Um alles, nur nicht den Schnitt, sagen die Cutter, aber natürlich gibt es genug Experimente mit Plansequenzen, um ihnen das Fürchten zu lehren. Eine Kamera reicht, sagen die Kameraleute, aber schon vor fünfzig Jahren hat Norman McLaren kleine Figuren in den Film gekratzt und damit einen ganzen Saal unterhalten. Niemand würde sagen, das sei kein Kino gewesen.
Als René Clair und die frühen Avantgardisten vom "reinen Kino" träumten, schwärmten sie von Wolkenbildern, verwackelten Straßenszenen und Meereswellen. Alles, wenn es nur auf einem Filmstreifen war, konnte sie in Entzücken versetzen, und sie hatten Recht. Und nun ist es Mode geworden, einfach den Film wegzulassen als sei er das Überflüssigste der Welt.
Abgesehen von einer kurzen, auf Zelluloid gedrehten Klammer – eine Schauspielerin engagiert einen Kameramann um eine Videobotschaft an ihren früheren Lebensgefährten zu produzieren – besteht Oliver Hirschbiegels Film aus eben diesem Video. Es ist also gar kein letzter Film, sondern ein letztes Video. Und wir, die wir Hannelore Elsner lieben, sind darauf eingeschworen, dies als konzeptuelle Notwendigkeit zu begrüßen. Nein! Ausgehend von der stillschweigenden Annahme, eine gute Performance – und Hannelore Elsner ist natürlich in dieser Hinsicht die sicherste Bank – lasse den Zuschauer sofort den Verlust vergessen, sollen wir uns also künftig damit abfinden im Kino kein Kino mehr zu sehen. Nun würde man in der performativen Videokunst, wie sie seit den Tagen Vito Acconcis genau mit diesen reduzierten Mitteln arbeitet, diese ästhetischen Unterversorgung nicht einmal für der Rede wert halten. Auch im Dokumentarfilm kann der Authentizitätswert den schlechtesten Bildträger vergessen lassen. Aber sagen wir es einmal in aller Härte: Selbst die beste Schauspielerin, auch Hannelore Elsner, ist im Genre der auf Video gebannten Lebensbeichte nichts gegen Hitlers Sekretärin. Selbst etwaige Bewunderer dieses Films müssen zugeben, dass er in einer Zeit, da Videoprojektionen auch auf der Bühne Gang und Gäbe sind, besser ein Stück Theater wäre.
Dort fände auch Bodo Kirchhoffs Text, der nicht aufhört, Literatur zu sein – und das ist hier kein Kompliment – etwas mehr Distanz. Zu keinem Zeitpunkt akzeptiert Kirchhoff, dass Monologe so geschrieben sein müssen, dass es wenigstens theoretisch vorstellbar ist, sie seien den Figuren im Moment des Vortrags in den Sinn gekommen. Aber niemand, der sich etwa an die wenigen lohnenden sexuellen Erlebnisse seines Lebens erinnert, beginnt im ersten Satz mit deren genauer Anzahl, um sich dann, peu à peu, an deren männliche Counterparts zu erinnern. Selbst in Süsskinds "Kontrabaß", Thomas Bernhard lassen wir lieber im Grab, sind Bonmots, so lange sie auch beim Schreiben auf der Goldwaage gelegen haben, beiläufig hervorgezauberte Perlen im Gedankenfluss. Dieser 80-minütige Monolog über die Frustrationen einer alternden Fernsehdarstellerin ist geradezu vollgestopft mit allzu wohl plazierten Statements zwischen Marlene Dietrich und Brigitte-Feminismus: "Nichts macht stärker als das unvollzogene Begehren." Oder: "Erfolg mit Schönheit ist die schleichendste aller tödlichen Krankheiten." Manchmal sind es auch einfache Binsenweisheiten wie diese: "Ehen gibt es nicht, weil es Mann und Frau gibt. Sondern, weil Menschen nicht allein alt werden wollen." Und: "Lieben ist immer eine Zumutung für alle Beteiligten." Wer wollte da nicht zustimmen? Etwas unangenehm Zustimmungsheischendes geht von diesem Film aus, wie so oft, wenn uns eine Videokamera sagen will: Reicht doch!
Schon die als leere Konspiration wie ein cleverer McGuffin inszenierte Eingangsszene, in der die Protagonistin ihren Kameramann um Diskretion ersucht, will uns smart darauf einstimmen, im folgenden weniger für mehr zu halten. Doch dann hagelt es natürlich trotzdem Plotpoints, wie immer im deutschen Kino, nur dass dies ebenfalls nicht mit der Monologform in Einklang zu bringen ist. Wenn die Heldin zum Ende eindringlich von einer tragischen Frühgeburt erzählt, tut sie das so erkennbar nicht für den Adressaten des Videos, der darüber wohl informiert sein dürfte, sondern allein für uns Zuschauer.
Natürlich gibt es in Hirschbiegels Darstellerführung genug V-Effekte um sich auch da auf der sicheren Seite zu wiegen, genug für ein ganzes Syberberg- oder Straub-Huillet-Seminar. Aber vergessen wir nicht: auch diese Minimalisten wussten, das man beim Kino eines nicht weglassen darf. Den Film.