"Mit fünf Mark in den Westen"
Was hieß für mich "Berlinale", damals 1982 in der DDR? Ein Filmfestival in einem anderen Land, im Westen eben. Ich war zu der Zeit fest am Theater in Halle und hatte gleichzeitig meinen zweiten Film gedreht. Als ich erfuhr, dass man mich für "Bürgschaft für ein Jahr" zur Berlinale eingeladen hatte, dachte ich nur eines: "Hoffentlich lassen die dich fahren..." In meiner Phantasie war es ein Schritt in die Freiheit, von der ich immer geträumt hatte, wenn es auch nur für fünf Tage sein sollte. Das Filmfestival war mir gar nicht so wichtig.
Dann kam tatsächlich der Tag, als ich von Halle nach Ostberlin zur Hauptverwaltung Film fuhr, um meinen Pass abzuholen. Dazu gab es fünf D-Mark pro Tag und Gutscheine für bestimmte Cafés und Restaurants in Westberlin. Als ich am Bahnhof Zoo ankam, war ich einer anderen Welt. Es war hell, bunt und es roch so anders, so gut. Es war im Februar wie Weihnachten. Ich wartete auf den Moment, wenn die Lichter ausgehen, doch es blieb hell – die ganze Nacht. Diese Erinnerung ist bis heute ganz stark geblieben. Ich, die 25 Jahre junge Schauspielerin aus der DDR, erhielt also neben Michel Piccoli den "Silbernen Bären" für die beste Hauptrolle. Ich war nicht allein. Immer in meiner Nähe mein Aufpasser, der Mann im schwarzen Ledermantel. Klingt wie in einem alten Schwarz-Weiß-Film, aber genau so war es. Es war erniedrigend, mit so wenig Geld in der Tasche durch diese Stadt zu laufen. Ich fühlte mich wie ein Vogel mit gestutzten Flügeln. Mein Leben lang hatte man mir beigebracht, dass hier der Klassenfeind sei, vor dem ich immer auf der Hut sein müsse. Meine fünf West-Mark pro Tag gab ich nicht aus. Ich sparte sie und kaufte mir am letzten Tag eine bunt gesteppte Jacke. Sie sollte eigentlich 30 Mark kosten, aber als der Mann sah, dass ich die Preisträgerin aus dem Osten war, gab er sie mir für 25. Ich war also für kurze Zeit in der Freiheit. Wo man im Restaurant nicht angeblafft, sondern angelächelt wurde. Wo einem im Hotel die Tür geöffnet wurde. Wo ich in Geschäften höflich bedient wurde, auch wenn ich nur fragte und nichts kaufte. Es war alles so anders, aber ich konnte es trotzdem kaum genießen und wurde zur Preisverleihung vor lauter Aufregung auch noch krank. Mit Fieber stieg ich auf die Bühne des "Zoo-Palastes", ich war wie in Trance. Dann erfuhr ich, dass ich sofort nach der Verleihung abreisen sollte, noch vor der Feier. Angeblich sei für den nächsten Morgen eine Theaterprobe angesetzt und so müsste ich den letzten Zug nach Halle nehmen. Den Genossen hatte wohl gedämmert, dass meine hektische Abreise einen merkwürdigen Eindruck machen würde, und so durfte ich doch noch zur Feier bleiben.
Ich kam nach Hause zurück, mit dem Bären im Gepäck, und es wurde wieder dunkel, so dunkelgrau wie die Mauer, die von dieser Seite nicht zum Greifen nah war. Zwei Jahre lang bekam ich kein einziges Filmangebot. Man wollte mich wohl auf den Boden zurückbringen, Stars sollte es in der DDR nicht geben, und dann war ich ja auch noch vom "Klassenfeind" ausgezeichnet worden. 1989 wurde ich wieder zur Berlinale eingeladen, dieses Mal mit "Das Haus am Fluss". Ein, wie man heute sagt, "politisch korrekter" Film über eine Dorfgemeinschaft im Zweiten Weltkrieg. Aber in der DDR hatten die Kinobesitzer die antifaschistischen Themen langsam satt, und auch auf der Berlinale verließen viele Zuschauer das Kino noch während der Vorführung.
Ich spielte mit Sylvester Groth die Hauptrolle, der sich mittlerweile in den Westen abgesetzt hatte. Ein Kameramann steckte mir einen Zettel zu mit Sylvesters Telefonnummer. Ich rief ihn an und lud ihn in die Vorführung ein. Wir trauten unseren Augen nicht. Der Name des Hauptdarstellers Groth war aus dem Abspann gestrichen. "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns": Er war nun ein Klassenfeind, und ihm sollte keine Aufmerksamkeit mehr zuteil werden. Jedenfalls nicht im Osten, was ihm ziemlich gleich war. Mir war es nicht gleich, ich wurde immer wütender auf die Machthaber und die Ja-Sager in der Kunst, die brav waren und dafür einen Volvo oder Mazda fuhren. Ich wollte in den Schweizer Hof, weil ich wusste, dass die Filmschaffenden der DDR-Delegation dort versammelt waren. Sylvester fragte mich, ob ich verrückt geworden sei. "Wenn du das machst und mit mir dort erscheinst", warnte er mich, "wirst du in der DDR nie wieder einen Film machen." Im Schweizer Hof erstarrten alle, als ich mit dem "Verräter" aufkreuzte und wir uns an einen kleinen Tisch setzten. Nach dem ersten Schreck taten alle, als wären wir Luft. Nur Horst Pehnert kam an unseren Tisch. Der stellvertretende Filmminister wollte mit Groth diskutieren. Mir schien er nie so borniert wie die anderen. Groth sagte mehrfach, wie idiotisch doch diese Mauer sei. Pehnert immer wieder, mittelschwer angetrunken: "Ich bin also idiotisch!" Eine Einigung wurde nicht erzielt, aber wir blieben dann doch nicht mehr lange.
Hätte ich anders gehandelt, wenn ich gewusst hätte, dass es nur noch gut zwei Jahre dauern sollte bis zum Mauerfall? Ich weiß es nicht, ich weiß nur, wie glücklich ich über die friedliche Revolution war und bin. Ich wohne in meiner Heimat und lebe in Freiheit. Und kann meiner Arbeit nachgehen. Etwas Schöneres kann es nicht geben.
Quelle: Jürgen Haase (Hrsg.): "Zwischen uns die Mauer. DEFA-Filme auf der Berlinale". Berlin: be.bra verlag, 2010.
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