Woyzeck
Leben im Eis
Hans. C. Blumenberg, Die Zeit, 01.06.1979
Reisen in unbekannte Gegenden jenseits des Horizonts, Bilder, die es noch nie zu sehen gab, Expeditionen in die Sahara, an den Amazonas, zuletzt in das Gespensterland Transsylvanien. Mehr als von jedem anderen deutschen Regisseur erwartet man von Werner Herzog das Außergewöhnliche, das Riskante, schließlich das Unmögliche. Man hält es fast für selbstverständlich, dass der "Visionär des Kinos", der "Prophet neuer Seh-Erfahrungen", immer neue Grenzen überwindet, immer extravagantere Beutestücke nach Hause bringt.
Werner Herzog ist ein Gefangener jenes Rufes, den er selber nach Kräften verschulden half. Wer sich, im Eise gehend, die extremsten physischen Strapazen zumutet, sieht sich stets auch zu kinematographischen Gewaltmärschen verpflichtet. Herzog, der bald nach Australien und dann wieder nach Südamerika aufbrechen wird, schien den "point of no return" längst überwunden zu haben. Wenn nun unverhofft die Sensation ausbleibt, wenn der Athlet sich radikal den Erwartungen der Funktionäre und des zahlenden Publikums verweigert, wenn er nichts anbietet als einen "kleinen", ganz und gar unspektakulären Film, dann trifft ihn die Entrüstung umso vehementer: als hätte sich Reinhold Messner entschlossen, eine Kletterpartie im Fichtelgebirge zu unternehmen.
Herzog erlaubt sich eine Atempause: "Woyzeck" oder Das Innehalten, eine kleine Flucht in das fast schon vergessene Land des Schweigens und der Dunkelheit. Von allen Herzog-Filmen ist "Woyzeck" der einfachste, der sprödeste, karg fast bis zur Selbstverleugnung: keine herrische Aneignung von Büchners Fragment, sondern ein Versuch, Demut zu üben. Herzogs "Woyzeck" folgt dem Büchners unendlich genau. Und ist doch mehr als die Abfilmung einer routinierten Stadttheater-Aufführung.
Zu Beginn schweift die Kamera langsam über ein niedliches Kleinstadtpanorama. Es herrscht Ruhe im Lande. Darauf folgt hart der Drill des Soldaten Woyzeck, die erbarmungswürdingen Verrenkungen einer hohläugigen Gliederpuppe in einer schäbigen KZ-Uniform. Der erste Satz des Dramas wirkt nach dieser kurzen Skizze einer mörderischen Spannung (das satte Idyll gegen das zappelnde Menschlein) um so höhnischer: "Langsam, Woyzeck, langsam", befiehlt der joviale Hauptmann, und von diesem Satz an scheint auch der Film in eine merkwürdige Lethargie zu verfallen. Keine der Szenen löst Herzog in mehr als zwei oder drei Einstellungen auf, die Darsteller agieren verhalten vor einer meist starren Kamera.
Im ersten Bild schon kommt, rechts hinten, ein Fenster vor, das keinen Blick ins Freie erlaubt. Und vor Fenster, durch die man nichts sieht als die Enge der wie ein Gefängnis zugesperrten Residenz, postiert Herzog seinen Woyzeck, seine Marie, seinen Andres immer wieder. Bald stellt sich eine Art von Klaustrophobie ein: Bewegungen und Blicke scheinen verboten, die Erstarrung ist total. Selbst der Mord an Marie, draußen vor der Stadt, geschieht in Zeitlupe. So wie ihn Klaus Kinski spielt, so gepeinigt und doch ohne jede wohlfeile Dämonie, gleicht er mehr einem Suizid, dem letzten Aufbegehren eines Menschen, der die Kälte um ihn herum nicht mehr aushält. In Zeitlupe hat Herzog auch die letzte Einstellung seines nur 82 Minuten langen "Woyzeck" gefilmt: Am Tatort machen sich schwarzgewandete Herrschaften zu schaffen, deren Funktion so undeutlich bleibt wie die des prachtvollen Sarges, der viel zu aufwendig ist für die arme Marie.
Aber das ist schon die einzige Arabeske, die sich Herzog in seiner ganz auf die Schauspieler, zumal auf den leisen "verhetzten" Klaus Kinski konzentrierten Inszenierung leistet, in der kein Bild, keine Kamerabewegung überflüssig scheint, die indessen bei aller bewundernswerten Ökonomie nicht allzu viel mit seinem üblichen Stil zu tun hat. Man möchte fast glauben, Herzog habe sich selber beweisen wollen, daß er auch ohne Überdruck, ohne zwanghafte Gigantomanie arbeiten kann.
Immerhin wird die gespenstische Ruhe dieses Films, die stummfilmhafte Schlichtheit, mit der Woyzecks Tragödie passiert, dem zornigen Drama Georg Büchners gerechter als jeder expressive Mummenschanz. Erst aus den Versteinerungen einer satten, selbstgerechten, fanatisch wissenschaftsgläubigen Kleinstadtgesellschaft (der Arzt und der Hauptmann könnten auch Figuren aus dem Kaspar-Hauser-Film sein) läßt sich Woyzecks Wahnsinnstat erklären. Es gibt durchaus auch Verbindungslinien zu anderen Herzog-Filmen (Eva Mattes variiert ihre Rolle der warmherzigen, schwachen Hure aus "Strozeck"), und man hätte sich als Woyzeck leicht den Kaspar-Hauser-Darsteller Bruno S. vorstellen können. "Ja, mir kommt es vor, daß mein Erscheinen auf dieser Welt ein harter Sturz gewesen ist", sagt Kaspar Hauser in "Jeder für sich und Gott gegen alle": ein Satz, der, wie andere von Herzog auch, aus "Woyzeck" stammen könnte.
Ein "großer" wichtiger Film ist dieser "Woyzeck" keinesfalls, aber die Pfiffe und Buhrufe, die ihn bei seiner Premiere in Cannes empfingen, hat Werner Herzog nicht verdient. Im allgemeinen Höhenrausch des Hollywood-Kinos sollten wir für die unauffälligen Qualitäten "kleiner" Filme nicht gänzlich unempfindlich werden. "Woyzeck" ist ein Nebenwerk. Keine Pleite.
© Hans C. Blumenberg