Ikarus
Ikarus
"Ikarus" ist ein sehr notwendiger Film für.unsere nationale Produktion. Er kann helfen, Maßstäbe zu festigen: Maßstäbe im geistigen Anspruch einer Gegenwartsgeschichte, Maßstäbe der filmerzählerischen Kultur. Für mich erwächst diese Notwendigkeit und Nützlichkeit vor allem aus einer bemerkenswerten Haltung der Filmautoren: Sie stellen sich realen Problemen unserer Tage erzählen die Geschichte so, daß sie nicht lau lässt. Polemisches Engagement gegen Oberflächlichkeit und Gleichgültigkeit, gegen Routine, die hier einem modernen Ikarus die Flügel beschneiden, ja zum Absturz bringen.
Zu Recht wies Regisseur Heiner Carow darauf hin, daß es sich um ein "künstlerisches Modell" handelt und "nicht etwa um ein emotionales Äußern in Sachen Scheidung oder Pädagogik"; nicht allein mitgeteilte Vorgang macht also den Film aus. Gelungen ist die poetische Verdichtung des zeitgenössischen Materials, deutlich die Korrespondenz zur Dialektik von Realität und gesellschaftlichem Ideal. Beziehungsvoll auch die Auseinandersetzung mit dem Entstehen von Wertvorstellungen, dem Annehmen von Vorbildern; das Einbeziehen des Mythos von Dädalus und Ikarus dient erzählerisch vor allem diesem Aspekt.
Die Erfahrung, die Regisseur Heiner Carow bei vorausgehenden Arbeiten mit Kindern und Jugendlichen gewonnen hat, zahlt sich in "Ikarus" aus: etwa in der Feinfühligkeit, mit der eine leicht verletzbare Sphäre erfaßt wird, in der psychologischen Genauigkeit, in der Subtilität des Spiels. Erstaunlich, welche Differenziertheit von Äußerungen und Haltungen der Regisseur und der elfjährige Hauptdarsteller (Peter Welz) in ihrer Arbeit erreichten. Auch die übrigen Kinderszenen sind samt und sonders frisch und ungekünstelt. Dieser große Vorzug läßt andererseits bedauern, daß die Erwachsenenwelt nicht in gleichem Maße vielschichtig gezeichnet ist. Der Mathias-Aspekt der Erzählweise engt eben auch erzählerische Objektivierung stark ein oder schließt sie gar aus. So geraten mir zu viele "erwachsene" Figuren zu Stichwortgebern, werden für die Geschichte nur benützt, ohne Chance auf Eigenleben und Eigengewicht. Hier hätte der Film zweifellos an Reichtum und Tiefe noch gewinnen können.