Ikarus

DDR 1974/1975 Spielfilm

Ikarus


Fred Gehler, Sonntag, Berlin/DDR, Nr. 43, 26.10.1975


"Ikarus" ist ein sehr notwendiger Film für.unsere nationale Produktion. Er kann helfen, Maßstäbe zu festigen: Maßstäbe im geistigen Anspruch einer Gegenwartsgeschichte, Maßstäbe der filmerzählerischen Kultur. Für mich erwächst diese Notwendigkeit und Nützlichkeit vor allem aus einer bemerkenswerten Haltung der Filmautoren: Sie stellen sich realen Problemen unserer Tage erzählen die Geschichte so, daß sie nicht lau lässt. Polemisches Engagement gegen Oberflächlichkeit und Gleichgültigkeit, gegen Routine, die hier einem modernen Ikarus die Flügel beschneiden, ja zum Absturz bringen.

Zu Recht wies Regisseur Heiner Carow darauf hin, daß es sich um ein "künstlerisches Modell" handelt und "nicht etwa um ein emotionales Äußern in Sachen Scheidung oder Pädagogik"; nicht allein mitgeteilte Vorgang macht also den Film aus. Gelungen ist die poetische Verdichtung des zeitgenössischen Materials, deutlich die Korrespondenz zur Dialektik von Realität und gesellschaftlichem Ideal. Beziehungsvoll auch die Auseinandersetzung mit dem Entstehen von Wertvorstellungen, dem Annehmen von Vorbildern; das Einbeziehen des Mythos von Dädalus und Ikarus dient erzählerisch vor allem diesem Aspekt.


Mathias nimmt zunächst voll und ganz die Substanz der Legende, so wie er das Vorbild der Erwachsenen, das Beispiel des Vaters braucht, um "fliegen" zu können. Das Versagen der Vorbilder (in diesem spezifischen Fall) stürzt ihn in die Resignation, in die Negation seiner einstigen Lieblingsgeschichte: "Überhaupt Geschichten – die werden ja doch bIoß gemacht damit die Kinder so vorbildlich werden und alles tun was die Erwachsenen wollen…" In dieser für Mathias" Persönlichkeitsentwicklung so bedrohlichen Situation plädiert der Film eindeutig und unmißverständlich für unser aller Verantwortung. Er tut dies in der Haltung des Moralisten, aber durchaus nicht banal. Der moralisierende Grundgestus schließt das punktuelle Verweisen sowohl auf Fehlverhalten als auch auf verständnis- und verantwortungsvolle Haltungen ein. Dabei sind Verständnis und Güte – dies ein erkennbares Motiv des Films – nicht an "natürliche" oder berufliche Verantwortlichkeit gebunden, auch nicht an eine Funktion. Verständnis und Güte sind hier nicht Auflage, sondern normales ethisches Verhalten. "Ikarus" ist vorwiegend aus der Sicht des jugendlichen Haupthelden heraus erzählt, die Bewertung der Geschehnisse erfolgt meist aus Mathias" Blick. Dies bringt den Vorteil starker Intensität und psychologischer Dichte. Nicht nur für die Filmautoren wird Mathias damit zur Identifikationsfigur, auch für das Publikum. Es fühlt sich von der Reinheit und Offenheit des Helden angesprochen, macht sich seine Hoffnungen und Träume zu eigen, wird von seiner Verzweiflung ergriffen.

Die Erfahrung, die Regisseur Heiner Carow bei vorausgehenden Arbeiten mit Kindern und Jugendlichen gewonnen hat, zahlt sich in "Ikarus" aus: etwa in der Feinfühligkeit, mit der eine leicht verletzbare Sphäre erfaßt wird, in der psychologischen Genauigkeit, in der Subtilität des Spiels. Erstaunlich, welche Differenziertheit von Äußerungen und Haltungen der Regisseur und der elfjährige Hauptdarsteller (Peter Welz) in ihrer Arbeit erreichten. Auch die übrigen Kinderszenen sind samt und sonders frisch und ungekünstelt. Dieser große Vorzug läßt andererseits bedauern, daß die Erwachsenenwelt nicht in gleichem Maße vielschichtig gezeichnet ist. Der Mathias-Aspekt der Erzählweise engt eben auch erzählerische Objektivierung stark ein oder schließt sie gar aus. So geraten mir zu viele "erwachsene" Figuren zu Stichwortgebern, werden für die Geschichte nur benützt, ohne Chance auf Eigenleben und Eigengewicht. Hier hätte der Film zweifellos an Reichtum und Tiefe noch gewinnen können.

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