Der neunte Tag
Der neunte Tag
Josef Lederle, film-dienst, Nr. 23, 11.11.2004
Die Nazis und das Dritte Reich stehen derzeit hoch im Kurs. Was von den 68-ern noch wütend eingefordert wurde, die Vergangenheit nicht länger zu verdrängen, ist in der Gegenwart einer wachsenden Erinnerungsflut gewichen. In immer neuen Anläufen spülen Verlage, Fernsehanstalten und das Kino historische Bruchstücke ins öffentliche Bewusstsein, deren schroffe Fraktur bisweilen ziemlich abgeschliffen erscheint. Das hat im Kontext von "Der Untergang" (fd 36 679) manche aufgeschreckt, die eine neuerliche Revision der NS-Zeit heraufziehen sahen. Von den (Film-)Bildern eines Diktators, der liebevoll seinen Schäferhund tätschelt oder nach dem Essen dezent die Lippen mit der Serviette abtupft, scheint eine Intimität auszugehen, die den Mythos des dämonischen Ungeheuers ins Wanken bringt. Die Angst vor dem Menschen hinter der Hitler-Maske verstellt dabei leicht den Blick auf die filmische Eigenart, die das Ende des NS-Systems mit einem platten Abbild-Realismus zu bewältigen sucht. Denn der imaginäre Zielpunkt einer angeblich um "historische Authentizität" bemühten Inszenierung läuft darauf hinaus, ein Geschehen quasi objektiv-dokumentarisch, im Idealfall wie im RTL-Container, widerzugeben. Volker Schlöndorffs Film, ein quälendes, ebenso bildmächtiges wie spannendes Kammerspiel über die Versuchung des Bösen, widersetzt sich von der ersten Einstellung an der Illusion einer "absoluten" Perspektive; seine Annäherung an das Schicksal eines von Millionen Menschen, dessen Leben durch die Nazis zerstört wurde, ist dezidiert subjektiv, vielfach gebrochen und gerade dadurch am ehesten seinem Gegenstand angemessen.
Dem Film liegt das Tagebuch "Pfarrerblock 25487" des luxemburgischen Pfarrers Jean Bernard zugrunde, der vom Mai 1941 bis August 1942 im KZ Dachau interniert war, ein Dokument des Schreckens, das den zynischen Terror nüchtern, fast sachlich protokolliert. Darin findet sich ein kurzer Eintrag über einen neuntägigen "Urlaub" Ende Januar 1942, bei dem der Priester in seine Heimat zurückkehrte, ohne dass Details oder Hintergründe enthüllt würden. Diese Leerstelle nützt das Drehbuch als Fenster für eine kühne Dramaturgie, die sich über die reine Faktizität erhebt, aber gerade dadurch zu einer historischen "Wahrheit" vordringt. Um den "fiktionalen" Charakter des Films zu unterstreichen, trägt die Hauptfigur einen anderen Namen: Abbé Henri Kremer, dem der Schauspieler Ulrich Matthes eine bedrängende Gestalt verleiht. Abgemagert, mit eingefallenen Wangen und tief in den Höhlen liegenden Augen, taumelt Kremer durch die kalte, gottlose Hölle Dachaus, wo sadistische Schergen den Takt eines Landserliedes mit dem Schürhaken in den Schädel hämmern und jeder Tropfen Wasser so kostbar ist, dass man darüber zum "Lagerschwein" werden kann. Von den 3.000 Pfarrern und Ordensleuten, die in Dachau gequält wurden, überlebte am Ende nur knapp die Hälfte.
Schlöndorff genügen wenige markante Szenen, um die Perversität des KZs wie auch die Todesangst der Inhaftierten schmerzhaft nahe zu bringen. Mit Kremer wagt man dessen plötzliche Entlassung kaum zu glauben, die ihn zurück nach Luxemburg beordert, wo ihn ein blasser Untersturmführer tags darauf in der Villa Pauly antanzen lässt, dem berüchtigten Zentrum des luxemburgischen Nazi-Terrors. Jener Gebhardt ist ein gebildeter Mann mit feinen Manieren, unter dessen intellektueller Firnis bald der skrupellose Karierrist durchscheint, der notfalls über Leichen geht. Er soll Kremer überreden, seinen Bischof für einen Pakt mit den Machthabern zu gewinnen. Mit List und unverhohlener Drohung, mehr aber noch mit verführerischen Argumenten versucht der Gestapo-Mann, den Abbé auf seine Seite zu ziehen. Gelingt dies nicht innerhalb von neun Tagen, muss Kremer zurück ins Konzentrationslager; um eine Flucht auszuschließen, bürgen seine Mitgefangene mit ihrem Leben.
Diese Ausgangssituation klingt in ihrer moralischen Zuspitzung nach einem kasuistischen Jesuitendrama, das seinem verstörenden Gegenstand ziemlich unangemessen wäre, weil es das geistige Duell zweier ungleicher Gegner um des mentalen "Thrills" willen in Szene setzte. Vor solchen Untiefen ist Schlöndorff nicht nur durch die existenzialistischen Untertöne gefeit, die aus dem reinen Gewissensdrama eine Replik auf die undelegierbare Verantwortung des Individuums machen. Mehr noch zwingen die optische Reduktion und die kontrapunktische Minimalmusik von Alfred Schnittke in eine nervenzermürbende Auseinandersetzung, bei der man auch als Zuschauer alsbald die Orientierung verliert, weil man zwischen Überlebenstrieb, Verantwortungsbewusstsein und den theologisch verdrehten Einflüsterungen des Gestapo- Mannes zerrieben zu werden droht. Ein Schattenboxen, dessen wahre Ausmaße man erst gegen Ende zu erahnen beginnt.
Der Subtilität der Schauspieler, allen voran Ulrich Matthes, der die inneren Kämpfe und Nöte Kremers fast wortlos, nur im Spiel mit den Augen und den Nuancen des leeren Gesichtsausdrucks andeutet, steht das kunstvoll gestaffelte Drehbuch nicht nach, das Kremers Bemühen, aus der tödlichen Zwickmühle zu entkommen, ein ums andere Mal in die Leere laufen lässt. Denn jeder, den er in seiner Verzweiflung um eine Entscheidungshilfe anfleht, versucht ihn auf seine Seite zu ziehen; die Schwester will ihn verstecken, der Bruder nach Paris locken; der Bischof verweigert sich, sein Sekretär paktiert mit den Deutschen. Das Dilemma, in dem sich Kremer befindet, wird von jedem auf seine Weise negiert. Ein ums andere Mal isoliert die Kamera die ausgemergelte Gestalt des Abbé und sperrt sie in dunkle, zunehmend finsterere Bildkader, wie überhaupt eine bedrängende (Farb-)Atmosphäre die selten ins Freie entfliehende Handlung dominiert. Am Ende sitzt Kremer des nachts an seinem Schreibtisch, in der Hand einen Stift, der immer wieder neu ansetzt, ein Schreiben zu verfassen, das ihm das Leben retten und seine tiefsten Überzeugungen verraten würde.
Was in "Der Untergang" nur Staffage und Pathos ist, durchdringt "Der neunte Tag" als Ganzes: eine historisch fundierte, fiktiv entwickelte Geschichte, die im Spiegel einer sorgsam rekonstruierten Historie von einem verbrecherischen Mördersystem, ihren Schergen und Opfern handelt, und dabei zugleich die Adressaten der Gegenwart im Auge hat. Das ist neben der dramaturgischen Geschlossenheit und der bezwingenden Ästhetik eine Leistung, die in diesem Genre eher die Ausnahme bleibt. Selbst wenn man das theologische Ringen um die Deutung der "Judas"-Metapher nicht in allen Verästelungen nachvollziehen will, vermittelt der Film Kremers existenziellen Kampf in einer Unmittelbarkeit, die streckenweise den Atem raubt. Dass es untergründig viel um Schuld und Vergebung geht, erscheint nur auf den ersten Blick dem kirchlichen Sujet geschuldet; in Wirklichkeit reflektiert es jene oft übersehene Dimensionen des Genozids, denen sich die Täter (und auf tragische Weise auch die Opfer) nicht entziehen können. Die Antwort, an der sich der Film mit viel Sensibilität abarbeitet, fällt vorsichtig-zurückhaltend aus: als An- und Zumutung an die Gemeinschaft, den Anderen nicht seiner Not zu überlassen. Das kann angesichts des braunen Zivilisationsbruchs nicht alles sein, was die Kulturindustrie zu einer angemessenen Vergegenwärtigung beitragen kann, doch ohne sie droht die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus im Getriebe des historischen Geschäfts oder kalkulierter Spektakel zu verschwinden.