Die verlorene Ehre der Katharina Blum
"Nicht versöhnt", fortgesetzt
Wolfram Schütte, Frankfurter Rundschau, 06.11.1975
Verschiedentlich ist gegen Schlöndorff / von Trottas "Verlorene Ehre der Katharina Blum" von der Kritik eingewendet worden, der Film habe, was sich der Leser der Böllschen Erzählung hätte hinzuphantasieren müssen, durch "knallharte Kino-Fakten" (Reinhard Baumgart) vergröbert, etwa wenn er zeigt, wie der Kommissar und der "Zeitungs"-Reporter Material austauschen. Als ob das, wenn man an das Zusammenspiel vor allem Berliner Zeitungen mit der Berliner Polizei, Justiz und dem Senat denkt, nicht längst, "knallharte" Wirklichkeitsfakten sind, so daß Reinhard Baumgarts Behauptung (in der SZ vom 11./12. 10.), in solchen Momenten "pariere" Schlöndorff/v. Trottas Film "die dumpfe Wut der Zeitung (demagogisch) mit hellerem Haß", falsch ist.
Der technokratische Zwang, unter dem Polizei, Justiz und Presse in diesem Falle (und zahlreichen anderen) stehen, verlangt von ihnen optimale, schnelle Erfolgsergebnisse. "Verhältnismäßigkeit" gehört zu den Wörtern und Gedanken, die bei Polizeiaktionen und Arbeitsergebnissen schon längst nicht mehr bedacht werden. Die Eigendynamik der Apparate und der in ihnen Beschäftigten ist so stark, auf so kurzfristige Ziele und "Optimierung" eingestellt, daß die Rücksichtslosigkeit, mit der hier auf allen Gebieten vorgegangen wird, brutaler Alltag geworden ist. So sehr gehört das offenbar schon zu ihrem Alltag, daß es manche gar nicht mehr wahrnehmen. Wolf Donner (in der "Zeit" vom 10. 10. 75) wirft dem Film vor, dieser "Mechanismus" werde nur in seinen Auswirkungen erfahrbar, aber nicht auf seinen politischen Hintergrund hin transparent gemacht". Als ob die dichte Beschreibung, erfahrbar an der vier Tagen aus dem Leben der Katharina Blum, nicht das Ineinandergreifen, die Mechanik sinnlicher vor Augen stellte, als bloße Behauptungen und Analysen, die nur durch godardsche Exkurse, Brüche im Erzahlvorgang und damit durch Komplexitäten möglich wären, welche aus dem chronikalischen Gestus des Films einen platt didaktischen machen würden – auf jeden Fall aber einen anderen Film, der auf ein anderes Publikum zugeschnitten wäre.
In der Tat arbeiten Schlöndorff / v. Trotta phänomenlogisch, d. h. mit der sinnlichen Anschauung, mit Handlungsmomenten, Sprachpartikeln, mit einer antropomorphen Welt: mit Gesten und Gesichtern und Wörtern. Die entscheidende Qualität des Films liegt eben darin, daß er es versteht, unsere Wirklichkeit mit dieser Methode bis zum beklemmenden Alpdruck zu beschreiben.
Das mag anderen vor den Schlöndorffs auch gelungen sein, z.B. Alexander Kluge in seinem "Abschied von Gestern", mit dessen Hauptfigur Katharina manches teilt, zum Beispiel den staunenden Blick; aber was sie von dieser Anita G. und ihren Fluchtbewegungen durch unsere Welt unterscheidet, sind sinnlichere Momente, ein dichter (und nicht allegorisch nur) auf sie eindrängendes Wirklichkeitsmaterial. Anita G. bringt unsere Wirklichkeit und ihre Widersprüche, ihre Ungleichzeitigkeiten und kontroversen Gegenbewegungen zum Sprechen, zur Darstellung; Katharina erfährt sie direkt, ist Ziel, Gegenstand, Opfer; bleibt aber nicht Opfer, setzt dem, was auf sie trifft, Widerstand entgegen, flieht nicht, sondern fordert Rechenschaft.
Das stiftet eine neue Qualität: der moralische Anspruch, der in eins zu setzen ist mit dem unzerbrechlichen Willen, seine Identität zu bewahren (oder gar: sie wiederzugewinnen) – Beziehungen moralischer, rigider Art, die untergründig und sicher unbewußt zurückverweisen auf Überlegungen Jean Amérys, wenn er in "Jenseits von Schuld und Sühne" sich mit der Frage beschäftigt, wie jene, welche die Demütigungen der KZs überlebt haben, noch leben können und welches Verhältnis sie zu ihren Peinigern besitzen. Zwei Wörter kennzeichnen diese moralisch-politische Situation: "Nicht versöhnt", und das ist der Titel von Jean-Marie Straubs Film nach Bölls "Billard um Halbzehn", in dem eine alte Frau als einzige nicht bereit ist, der Restauration resignierend und tatenlos zuzusehen. Sie greift zur Waffe und schießt auf einen Kriegsverbrecher.
Sicher gehört die Handlungsführung, aufgrund deren Katharina in den Besitz der Waffe kommt, zu den schwachen Stellen des Buchs und auch des Films; jedoch daß sie den Reporter erschießt, entwickelt der Stoff folgerichtig und vielfältig. Es ist nicht nur Gegenwehr, Rache, Haß oder das Ergebnis einer Verdichtung, die Katharina zu einer Mordmaschine abgerichtet hat, welche auf den Terror der Sprache, dessen Ziel sie lange genug war, nun mit dem dinglichen Äquivalent, der Pistole, antwortet; sie zerhaut, für einen Augenblick in besinnungslose Klarheit versunken, den Gordischen Knoten, der von der totalen Korruption geschürzt worden war, die um sie und ihre Person herrscht. Sie als einzige fordert Verantwortung, und zwar nicht vor einem metaphysischen Richtstuhl, sondern hier und jetzt. Sie bricht mit der Übereinkunft, daß alles wiedergutzumachen sei, daß was ihr und anderen geschehen ist, hingenommen werden müsse, "weil das Leben so ist". Auch der Reporter, wie zuvor die Polizei, die Justiz, und Katharinas reiche Freunde (die Blornas) und kleinbürgerliche Verwandten hatten sich darauf herausgeredet. Was jene, trotz gegensätzlicher Positionen und Sympathien doch negativ verbindet, ist die Bereitschaft, ihre Empörung zu besänftigen, ihre Wunden zu verdecken, was geschehen ist, "vergessen" zu wollen. Zu vergessen und zu verzeihen (ohne, daß sich dadurch etwas änderte), bedeutet aber für Katharina: sich aus der Verantwortung fortzustehlen, sich selbst, das eigene Gewissen und den Wunsch nach einem Anderen und Besseren aufzugeben; es hieße: mitzumachen, teilzuhaben und genau zu jenen zu werden, die sich an ihr erprobten, um sie zu der ihren zu machen. Katharina Blum ist vielmehr Antigone – als Racheengel oder Jungfrau von Orleans zu sein..
Wie genau der dissonate Schluß, das satirische Nachspiel auf dem Friedhof anläßlich der Beerdigung des Reporters, wie schmerzlich fremd und abstoßend diese kollektive Heuchelei, an der alle teilnehmen (außer der Mörderin und Ludwig), sich der Chronik anfügt und sie mit übersteigert-satirischen Mitteln mitten in unsere fortdauernde schlechte Wirklichkeit hineinwirft: – das wird aus der Konsequenz deutlich, mit der die Schlöndorffs alle anderen möglichen und denkbaren Schlußeinstellungen übergangen – vorgezeigt und doch ausgeschlossen – haben.
Denn möglich wären folgende Schlüsse gewesen: 1. nach Ludwigs Verhaftung, Katharina einsam auf dem Feld, wo Panzerspähwagen kreisen: ein melancholischer Schluß, mit tragischer Pointe, sie hat Ludwig unbewußt verraten und kam zu spät. 2. Das Zusammensein im Haus der Blornas, Gespräche am Kamin, alles überstanden, nun können wir erleichtert zur Tagesordnung übergehen, "wir sind allzu mal Menschen". 3. Der Reporter und Katharina, der Teufel und der liebe Gott, Showdown der Kontrahenten, Lakonie der Abrechnung. 4. Katharina in der Zelle, der Kommissar fragt, ob sie auch den Bildreporter umgebracht habe. Katharina, sich umdrehend, Großaufnahme: "Warum den nicht auch?": die Rachemaschine und Terroristin. 5. Das Zusammentreffen der beiden Liebenden in Polizistenpulks, ihre verzweifelten Umarmungen, wie sie auseinandergerissen werden, aber doch endlich vereint, ein chabrolscher Schluß.
Das alles wären Möglichkeiten für ein melancholisches, liberales, heroisches, agitatorisches, melodramatisches Ende; indem sie der Film hintereinanderstaffelt, zeigt er die Alternativen, diese Geschichte verschieden zuendezudenken und – zu interpretieren. Er entscheidet sich aber zuletzt für den satirischen Bruch, mit dem er das "Einzelschicksal" noch einmal gegen die Totalität der Gesellschaft stellt.
Und zwar die bürgerliche Gesellschaft, von keiner anderen ist die Rede; und die Argumente des Films, das Pathos seiner Hauptfigur ist bürgerlich: sie klagt ein, daß die bürgerlichen Versprechen und verfassungmäßig verbrieften Rechte vom technokratisch verwalteten, zur nackten Gewaltmaschinerie umgewandelten Staatsapparat ausgehöhlt wurden; daß die kritische, öffentliche Aufgabe der Presse – nämlich den Bürger gegen den Übermut der Ämter zu schützen – nicht nur nicht mehr von ihr wahrgenommen wird, sondern mehr noch: daß die Presse ein verfilzter Teil des Gewaltapparates ist, der sich ihrer bedient, wie sie sich seiner; und daß der Mut, dem Konformismus, der Verantwortungslosigkeit (ein Kennzeichen der Technokratie) zu widerstehen, nur noch bei wenigen vorhanden ist, was jedoch nicht zur Resignation, sondern zum verstärkten Selbstbewußtsein und zur Sensibilisierung führen sollte.
Es mag und soll der Zuschauer eher irritiert, verärgert, verstört aus dem Kino gehen, als im Bewußtsein, er habe einer glatt und bewegend abgelaufenen Tragödie oder einem bloß rührseligen Melodrama zugesehen. Er hat aber eine Chronik laufender Ereignisse aus unseren Tagen gesehen – "Nicht versöhnt", fortgesetzt.