Summary
The Poll Diaries
On the eve of World War I, 14-year-old Oda von Siering returns to Poll, her family home on the Baltic coast, a region uneasily shared by Germans, Russians and Estonians. With her are the mortal remains of her mother, who passed away in Berlin. Awaiting the bright and inquisitive girl are her father Ebbo, an eccentric scientist with a dubious interest in racial breeding; her aunt Milla, who flees reality through music and affairs; and other members of her aristocratic German family, who are clinging to their privileges in a world on the brink of disaster. Upon finding a wounded Estonian anarchist on the estate, the passionate, impulsive Oda fearlessly hides him and secretly nurses him back to health, aware that her deed could trigger a chain reaction of uncontrollable violence.
The Poll Diaries hauntingly evokes the end-of-days atmosphere of a doomed society at the crossroads of the German and Russian Empires in the early years of the 20th century. Following his award-winning Four Minutes (Audience Awards at the Hamptons and San Francisco, German Film Awards and Best Film Award in Shanghai and Sofia), director Chris Kraus now presents the masterly portrait of a segment of civilization and humanity sliding into chaos and anarchy.
Source: German Films Service & Marketing GmbH
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Auf Poll, dem Gut der adligen deutschbaltischen Familie, dessen im Stil von Palladio entworfenes Renaissance-Herrenhaus so spektakulär wie fragil auf Pfählen ins Meer gesetzt worden ist und nur über einen schmalen Damm erreicht werden kann, trifft das temperamentvolle und etwas großstädtisch-altkluge Mädchen auf eine längst überkommene zarentreue Adelsgesellschaft. Die eine Oda fremde Dialektsprache spricht, sich zu gemeinsamem Musizieren vornehmlich von Schuberts „Forellenquintett“ trifft, wobei russische Offiziere als Gäste herzlich willkommen sind, und inmitten eines porösen Idylls geradezu blind gegenüber dem, was auf dem „Festland“ geschieht, ihrem Zusammenbruch entgegengeht.
Ihr Vater Ebbo von Siering (verschroben, aber kein Frankenstein-Monster: Edgar Selge), ein leidenschaftlicher Arzt und geradezu fanatischer Hirnforscher, setzt alles daran, seinen verlorenen Professorentitel durch eigene, von der akademischen Lehre aber nach wie vor misstrauisch verfolgte Studien zurückzugewinnen. Im Sägewerk des Gutes hat er sich ein Laboratorium errichtet, in dem er, von zaristischen Truppen regelmäßig mit frischen Exponaten versorgt, pathologische Experimente an sog. Anarchisten durchführt.
„Wollen wir eine Katze aufschneiden?“: Er führt Oda, die ihm aus Berlin die Köpfe zusammengewachsener Zwillinge in Formalin mitgebracht hat, sogleich in sein für heutige Augen absonderliches, zu dieser Zeit aber keineswegs ungewöhnliches Abnormitätenkabinett. In dem sich später auch der Wiener Professor Plötz (Erwin Steinhauer) umsieht, Ebbo von Siering aber keine wissenschaftliche Rehabilitation verspricht: Zu sehr grenzt Ebbos Methode der des berühmten Turiner Hirnforschers Cesare Lombroso, die inzwischen als Scharlatanerie angesehen wird.
Oda wird mit ihrer somnambulen Tante Milla (Jeanette Hain), die vergeblich in die Stiefmutter-Rolle zu schlüpfen sucht, nicht recht warm, zumal sie rasch mitbekommt, dass diese in eine Affäre mit dem schroffen Verwalter Mechmershausen (Richy Müller) verstrickt ist. Und vom ungeschickten Cousin Paul (Enno Trebs), einem jungen Kadetten der russischen Armee, lässt sich Oda schon gar nicht den Hof machen. Sie durchstreift vielmehr die Umgebung des Gutes und findet in einer weitgehend zerstörten Kirche einen schwer verwundeten Flüchtling.
Oda entscheidet spontan, dem jungen, ansehnlichen und ein wenig Deutsch sprechenden Mann, der sich selbst nur „Schnaps“ nennt (Tambet Tuisk), zu helfen. Er ist, wie sich herausstellt, ein estnischer Schriftsteller, der sich dem Freiheitskampf gegen die russischen Besatzer angeschlossen hat und nun als „Anarchist“ verfolgt wird. Oda pflegt ihn aufopferungsvoll in einem Versteck über dem Labor des Vaters und wird im Gegenzug mit einer ihr neuen literarischen Welt vertraut gemacht: „Schreiben Sie, wie Sie fühlen.“
Zwischen beiden entwickelt sich eine zarte Liebesgeschichte, doch „Schnaps“ lässt keinen Zweifel daran, dass er bei erster Gelegenheit Poll verlassen will – ohne die viel zu junge Oda, die zudem weder der estnischen noch der russischen Sprache mächtig ist. Als mit den Schüssen des serbischen Attentäters in Sarajewo der Erste Weltkrieg ausbricht und die zaristischen Soldaten ein (Schnaps-) Fass aufmachen, ist der Zeitpunkt zur Flucht gekommen...
„Poll“ basiert lose auf den Memoiren der Berliner Autorin Oda Schaefer (1900 – 1988), in denen sie ihren Kindheitsbesuch in der russischen Ostseeprovinz Estland kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges schildert. Was Chris Kraus in einer kleinen Rahmengeschichte mit Gudrun Ritter als betagte Oda Schaefer andeutet. Die wechselhafte Geschichte dieses heute wieder selbständigen und inzwischen auch zur Europäischen Union gehörenden Landes ist kaum noch bekannt: Deutsche Kreuzritter hatten im Mittelalter weite Teile des Baltikums erobert, gerieten aber schließlich selbst unter die Hegemonie des Zarenreiches. Anfang des 20. Jahrhunderts übte die russische Regierung immer stärkeren Druck auf die Deutschbalten aus, denen ihre Privilegien, ihre Kultur und ihre Vorherrschaft über die unterjochten Esten genommen wurde. 1939 wurden die letzten Deutschbalten ins „Dritte Reich“ zwangsumgesiedelt.
Chris Kraus hat mit „Poll“ einen Spielfilm gedreht mit opulenten Bildern der Kamerafrau Daniela Knapp, die grandiose Landschaften, ein halbes Dutzend aufwändiger Massenszenen und die im Grunde kammerspielartigen Handlungssequenzen geschickt miteinander verbindet. Der Gutshof Poll existiert tatsächlich, aber als verlassener, verfallener Ort. Er wurde in sechsmonatiger Bauzeit an der südestnischen Ostseeküste neu errichtet. Und auch die zentrale Liebesgeschichte zwischen Oda und „Schnaps“ ist reine Erfindung. Vor allem aber ist „Poll“, uraufgeführt am 16. September 2010 auf dem Int. Filmfestival Toronto, am 3. Februar 2011 in die Kinos gekommen und am 16. Januar 2013 in der ARD erstausgestrahlt, großes (Gefühls-) Kino, mit einem regelrechten Showdown im Westernstil zum grandiosen Finale nach gut zwei Stunden.
Bis in Episodenrollen glänzend besetzt weiß vor allem Paula Beer zu überzeugen. Die Vierzehnjährige wurde auf einem Berliner Schulhof gecastet und verkörpert die Rolle der gleichaltrigen Oda an der Schwelle vom überheblich-zickigen Mädchen zur abenteuerlustigen und schließlich romantisch liebenden, selbstlosen jungen Frau mit jeder Faser ihres Körpers. Ohne Sentimentalität, ohne ausgestellte Pose, aber mit großer Kraft und unbändiger Leidenschaft. Was alles für Paula Beer wie auch für Chris Kraus gilt. Ein doppelter Glücksfall für den deutschen Film.
Pitt Herrmann