Das Fahrrad

DDR 1982 Spielfilm

Inhalt

Susanne, allein erziehende Mutter und ungelernte Arbeiterin, schlägt sich recht und schlecht durchs Leben. Einzige Abwechslung findet sie in der Disco. Auf einer Betriebsfeier lernt sie Thomas, einen frisch gebackenen, strebsamen Ingenieur, kennen, der sich für sie zu interessieren scheint. Ihr sind die krassen sozialen Unterschiede bewusst. Frustriert kündigt sie ihre monotone Arbeit, ohne eine Alternative zu haben. Als sie in finanzielle Schwierigkeiten gerät, meldet sie ihr Fahrrad als gestohlen, um die Versicherungssumme zu kassieren. Thomas kümmert sich zwar um sie, als es zu einem Strafverfahren kommt, vermag aber ihre Lebensweise nicht zu akzeptieren. Susanne trennt sich von ihm – nun mit konkreten Plänen, ihrem Leben eine neue Richtung zu geben.

 

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Heinz17herne
Heinz17herne
„Liebe lässt von Liebe nicht, ob schon muss sie weichen…“: Susanne Becker steuert im dichten Regen und noch dickerem Straßenverkehr ihre kleine Tochter Jenny auf dem Fahrrad in den Hort, wo sie von der Kindergärtnerin sogleich angemahnt wird, das überfällige Essensgeld zu bezahlen. Die alleinerziehende Mutter, die in einem metallverarbeitenden Betrieb an der Stanzmaschine immer wiederkehrende Handbewegungen vollzieht, ist so blank, dass ein Versicherungsvertreter ihr gut zureden muss, nicht gleich alle Policen zu kündigen.

Das Geld leiht Susanne sich abends in der Disco von Kalle, wobei es nicht klar wird, ob es sich bei ihm um Jennys Vater oder nur eine Kneipenbekanntschaft handelt. Ein Stockwerk drüber steigt gerade eine große Betriebsfeier: Genosse Thomas Marlow, ein junger Diplom-Ingenieur, ist zum Leiter für Technik und Produktion eines Textilkombinates ernannt worden – und erhält aus dem Kreis erfahrener Kollegen sogleich den Rat: „Mensch musste bleiben!“ Sein Vorgesetzter Riemer dagegen gibt sich beim Rotkäppchen-Trinkspruch euphorisch: „Auf den unaufhaltsamen Aufstieg!“

Susanne und Thomas laufen sich zufällig über den Weg, mehrfach. Ihr schmeichelt das offenbare Interesse des ledigen Akademikers, aber die krassen sozialen Unterschiede zwischen ihnen lassen sich auch in der offiziell klassenlosen Gesellschaft des real existierenden Sozialismus nicht unter den Teppich kehren. Als ob sie sich ihrer monotonen Tätigkeit schämt, kündigt Susanne, um sich nach einer Beschäftigung umzusehen, die sie stärker herausfordert. Was bei einem Reisebüro auch beinahe geklappt hätte, nachdem die Chefin Fremdsprachenkurse als Vorbereitung angeboten hatte. Aber eine plötzliche Erkrankung Jennys unterbrach den Kontakt – und anschließend war die Stelle neu besetzt.

Solchermaßen in finanzielle Schwierigkeiten geraten, meldet Susanne ihr Fahrrad bei der Polizei als gestohlen und kassiert die Versicherungssumme in Höhe von 450 Mark. Dieser Betrag wäre ihr Anfangsverdienst beim VEB Miratex vor einer möglichen Qualifizierung zur Facharbeiterin gewesen. Doch Nachtschichten kommen für die Alleinerziehende nicht in Frage: sie will Jenny nicht in der betriebseigenen „Dauereinrichtung“ abstellen. Ihre betagte Nachbarin im Altbau, die gottesfürchtige Frau Puschkat, passt auf die Kleine auf, wenn Susanne mal wieder die Decke auf den Kopf fällt und sie sich abends mit Freunden trifft.

Als ihr Abschnittsbevollmächtigter dahinterkommt, dass ihr Fahrrad gar nicht gestohlen worden ist, wird sie bei Gericht angezeigt: „Betrug zum Nachteil sozialistischen Eigentums.“ Was Susanne dem nicht lockerlassenden Thomas verschweigt, der ihr samt Jenny nicht nur ein neues, komfortables Zuhause offeriert, sondern auch einen Arbeitsplatz in seinem Kombinat. Als es zu einem Strafverfahren kommt, bemüht sich Thomas zwar zusammen mit der Brigadeleiterin Lotti erfolgreich bei der Staatsanwältin, dass der Fall nicht vor dem Gericht, sondern vor der betrieblichen Konfliktkommission verhandelt wird, distanziert sich jedoch gleichzeitig von der ihm allzu locker und letztlich verantwortungslos erscheinenden Lebensweise Susannes. Was auch am eigenen Frust darüber liegt, dass seine offenbar überambitionierten Neuerer-Vorschläge sowohl vom eigenen Betriebsdirektor als auch vom übergeordneten Direktor der Vereinigung Volkseigener Betriebe als unrealistisch abgeschmettert worden sind.

Susanne dagegen erkennt, dass sie endlich auf eigenen Beinen stehen muss – und bezieht wieder ihre alte Wohnung, auch wenn Frau Puschkat nicht mehr als „Oma“ zur Verfügung steht. Sie bleibt in Lottis Brigade, tritt Thomas selbstbewusst-freundlich gegenüber und bringt, kaum hat sie sich selbst freigestrampelt, ihrer Tochter das Fahrradfahren bei…

Die mit Überblendungen und Weichzeichnern auch ästhetisch ungewöhnliche, politisch-kritische Emanzipationsgeschichte einer Arbeiterin im Arbeiter- und Bauernstaat fand bei der heimischen Kritik keine Gnade. So schrieb „Kino-Eule“ Renate Holland-Moritz im populären DDR-Satiremagazin „Eulenspiegel“, dass die Vorgeschichte von Susannes erster Ehe und damit die Hintergründe für ihre prekäre gesellschaftliche Situation als ungelernte Arbeiterin ohne Abitur im Dunkeln bleiben. Susanne sei daher „ein auf ungeklärte Weise innerlich zerrissener, kaputter Typ“ und Evelyn Schmidts nach „Seitensprung“ zweiter Spielfilm „nichts als eine müde Artikulation muffligen Unbehagens an der Gesellschaft.“

Während Einladungen zu Festivals in Wien und London abgelehnt wurden, lief „Das Fahrrad“ erstmals am 2. Juli 1985 auf dem Bildschirm - in der ZDF-Reihe „Filme von Frauen“. Das DDR-Publikum musste bis zur Erstausstrahlung am 23. Januar 1990 im Deutschen Fernsehfunk warten. Was umso erstaunlicher ist, als der Mitteldeutsche Verlag Halle/Saale bereits 1982 den nach seinem Drehbuch geschriebenen Roman „Abbruch der Beziehungen“ von Ernst Wenig veröffentlichte. Der gebürtige Dessauer des Jahrgangs 1944 gehörte dem Zirkel schreibender Arbeiter im VEB Junkalor Dessau an, bevor er über einen Lehrgang an der Filmhochschule Babelsberg Ende der 1970er Jahre als Szenarist zur Defa kam. Die Emanzipationsgeschichte einer alleinerziehenden Mutter ist auf der 69. Berlinale 2019 in der Retrospektive „selbst bestimmt – Perspektiven von Filmemacherinnen“ gezeigt worden.

Pitt Herrmann


Credits

Alle Credits

Regie-Assistenz

Drehbuch

Szenarium

Kamera-Assistenz

Standfotos

Licht

Kostüme

Schnitt

Mischung

Produktionsleitung

Länge:
2447 m, 90 min
Format:
35mm, 1:1,66
Bild/Ton:
Orwocolor, Ton
Aufführung:

Uraufführung (DD): 22.07.1982, Berlin, Colosseum

Titel

  • Originaltitel (DD) Das Fahrrad
  • Weiterer Titel The Bicycle
  • Originaltitel (DE) Das Fahrrad (Digital restaurierte Fassung 2018)

Fassungen

Original

Länge:
2447 m, 90 min
Format:
35mm, 1:1,66
Bild/Ton:
Orwocolor, Ton
Aufführung:

Uraufführung (DD): 22.07.1982, Berlin, Colosseum

Formatfassung

Abschnittstitel
  • Originaltitel (DE)
  • Das Fahrrad (Digital restaurierte Fassung 2018)
Länge:
90 min
Format:
DCP 2k
Bild/Ton:
Farbe, Ton
Aufführung:

Aufführung (DE): 13.02.2019, Berlin, IFF - Retrospektive